«Sprache ist auch ein Machtmittel.»
Interview: Urs Hafner
Was darf man sagen? Darüber wird heiss diskutiert. Sprachwissenschaftler Martin Luginbühl kritisiert fehlendes Wissen im Streit über Genderstern und diskriminierungsarme Wortwahl.
UNI NOVA: Herr Luginbühl, die Sprache ist zum Kampfplatz geworden. Man und frau streiten darüber, wie geschrieben und «gegendert» werden soll. Freut Sie das als Sprachwissenschaftler?
Martin Luginbühl: Ja und Nein. Einerseits finde ich es gut und wichtig, dass viele Menschen über die Möglichkeit einer diskriminierungsarmen Sprache diskutieren. Sprache ist kein neutrales Medium, sondern sie prägt die Wirklichkeit. Andererseits ist es schade, dass die Debatten so gehässig geführt werden. Politische Parteien instrumentalisieren das Thema. Mich stört, dass viele linguistisch wenig informiert sind.
Was sollten Politikerinnen und Politiker wissen?
Eine Studentin hat bei mir kürzlich eine Masterarbeit dazu geschrieben, wie Schülerinnen und Schüler der Sekundarstufe I Texte verstehen, die sowohl mit als auch ohne Genderstern geschrieben sind. Das Ergebnis ist klar: Der Stern beeinträchtigt die Verständlichkeit eines Textes nicht. Ähnliche Studien sind zum selben Schluss gekommen. Und trotzdem behauptet die SVP in ihrer Initiative, die sie in Zürich gegen die Verwendung des Sterns in amtlichen Texten eingereicht hat, das Gegenteil.
Ein weiterer Einwand lautet: Der Genderstern sei hässlich und störe das Textbild.
Dieser Ansicht kann man sein, dann verzichtet man halt auf den Stern. Die Sprache gehört allen. Es gibt ja keinen Zwang, den Genderstern zu gebrauchen, wie rechtspopulistische Parteien behaupten. Wenn eine Institution beschliesst, das Zeichen zu benutzen, ist das eine interne Regel, ähnlich wie die Verkehrspolizei ihren Angehörigen das Tragen einer Uniform vorschreibt.
Ist eine Gesellschaft, die sich über den Sprachgebrauch in die Haare gerät, im Umbruch?
Die Debatten sind ein Stellvertreterphänomen, das den Wandel der Geschlechtervorstellungen anzeigt. Wir bewegen uns vom binären Modell hin zur Geschlechtervielfalt. Die erste Etappe fand in den 1980er-Jahren statt, als das grosse Binnen-I die Frauen sichtbarer machte.
Damals ging es um die Sichtbarmachung der beiden Geschlechter. Der Genderstern soll nun die vielen Geschlechter abbilden und zugleich die Auflösung der Kategorie Geschlecht vorantreiben.
Das glaube ich nicht. Es geht darum, die Kategorie Geschlecht sozusagen zu ent-binarisieren. Die Geschlechterbinarität ist letztlich ein gesellschaftliches Konstrukt, allerdings ein wirkmächtiges. So kam es sogar so weit, dass man Säuglinge, die weder als männlich noch als weiblich zu identifizieren waren, ohne Notwendigkeit medizinisch behandelte, um sie in das Schema weiblich/männlich einordnen zu können.
Es gibt eine Gegenbewegung: Rechte Publizisten verwenden bewusst und vermehrt das generische Maskulinum.
Das dürfen sie, aber ihre Texte werden dadurch nicht verständlicher. Heute stellt sich bei dieser Form schnell die Frage: Wer ist nun gemeint und wer nicht – nur die Männer? Der Schweizer Sprachwissenschaftler Ferdinand de Saussure hat gesagt: «Die Bedeutung kommt von der Seite.» Der Kontext bestimmt die Bedeutung. In einer Welt, in der Geschlechtsidentitäten immer mehr sprachlich sichtbar gemacht werden, wird die Bedeutung des sogenannten generischen Maskulinums noch unklarer. Psycholinguistische Studien zeigen übrigens, dass es bei den Lesenden überwiegend männliche Vorstellungen hervorruft. Wenn wir sprechen, dann gendern wir, wir können nicht nicht gendern.
Benutzen Sie den Genderstern?
Selten. Aus ästhetischen Gründen und weil es schneller geht beim Tippen, setze ich den Binnendoppelpunkt ein, der sich besser in den Text integriert. Aber was ich persönlich verwende, ist nicht von Bedeutung: Es gibt viele Möglichkeiten, Sprache diskriminierungsarm zu verwenden. Und hier findet im Moment Sprachwandel statt.
Die antirassistisch-postkoloniale Szene schreibt das Adjektiv schwarz neuerdings gross, zum Beispiel «Schwarze Frauen». Orthografisch ist das falsch. Stört Sie das?
Hier geht es ja darum, dass «Schwarz» nicht die Hautfarbe beschreibt, sondern eine sozial konstruierte Kategorie. Daher stört mich die Schreibweise nicht, aber ich verstehe, dass Lesende Mühe haben, wenn sie den Sinn eines Sprachgebrauchs nicht verstehen. Das muss man ernst nehmen. Die «Verletzung» der Rechtschreibung ist letztlich eine Güterabwägung: Ist mir die Regel wichtiger oder der Wunsch, einen problematischen Sprachgebrauch sichtbar zu machen? Und: Regeln sind nicht in Stein gemeisselt. Dänemark etwa schaffte Ende der 1950er-Jahre die Grossschreibung ab.
Für manche Leute sind gewisse Worte tabu: Wer etwa «Mohrenkopf» sage, verletze damit Schwarze. Hat Sprache wieder eine magische Macht wie im Mittelalter, als die Kirche Fluchworte verbot?
Sprache hat eine magische Funktion, weil wir mit dem Sprechen handeln und so Wirklichkeit hervorbringen. Bei Personenbezeichnungen wie «Mohr», die diskriminierend sind, kann man sich nicht auf den Standpunkt stellen: «Ich habe es nicht so gemeint.» Der Philosoph Ludwig Wittgenstein sagte: «Es gibt keine Privatsprache.» Die Bedeutung der Sprache ist gesellschaftlich bedingt. Im Mittelhochdeutschen waren «Weib» und «Fräulein» zwei gängige Bezeichnungen für Frauen. Heute ist «Weib» in den meisten Kontexten abwertend, «Fräulein» ist ganz ausser Gebrauch gekommen. Ich kann deshalb nicht eine Frau mit «Weib» anreden und dann sagen, ich hätte es nicht abwertend gemeint.
Wieso ist «schwarz» in der deutschen Sprache meist negativ konnotiert, etwa in der Wendung «jemandem den schwarzen Peter zuschieben»?
Es stimmt nicht, dass «schwarz» meist negativ konnotiert ist. Die zitierte Redensart kommt von einem Kartenspiel, in dem der «schwarze Peter» bestimmt, wer verliert. Er ist seit der Zeit des Kolonialismus oft als Dunkelhäutiger dargestellt worden. Das ist rassistisch, und deshalb ist die Redensart problematisch.
Soll man Worte verbieten?
Nein, Verbote bringen nichts, Zwang auch nicht, aber das Diskutieren ist wichtig. Die rote Linie ist für mich das Gesetz: Sprache darf nicht rassistisch beleidigen. Deshalb liegt der Gebrauch des N-Wortes als Personenbezeichnung nicht drin.
Was halten Sie vom «Migrationsstrom»?
Das Wort ist problematisch, weil Migrierende als mächtiger, kaum aufzuhaltender und bedrohlicher Wasserstrom darstellt werden. Es macht deshalb einen Unterschied, ob ich «Geflüchtete» sage oder «Migrationsströme» – oder ob ich in Bezug auf die Krim von «Annexion» rede oder von «Beitritt». Sprache und Wirklichkeit sind ineinander verwoben: Sprache drückt aus, welche Vorstellungen wir von der Welt haben, und zugleich prägen wir mit Sprache die Wahrnehmung der Welt. Darum ist es wichtig, dass wir über die Sprache reden.
An den Universitäten wird das besonders intensiv getan. Wissen Akademikerinnen und Akademiker am besten, welche Worte richtig oder falsch sind?
Es wird nicht nur an Universitäten über Sprache gestritten. Eine hohe Sprachsensibilität ist auch unter politischen Gruppen und in der LGBTQ+-Bewegung zu finden. Die Universitäten bestimmen übrigens nicht über richtigen oder falschen Sprachgebrauch: Sie sind heterogene Gemeinschaften, in denen verschiedene Gruppen unterschiedliche Ansichten vertreten. Die Universität Basel etwa schreibt keinen Sprachgebrauch vor. An ihr herrscht Denkfreiheit, wie das für jede Hochschule gelten soll.
Was sagen Sie zum Ausruf «Man darf nicht mehr sagen, was man denkt»?
Oft ist der Satz ein versteckter Versuch, die Bemühungen um eine diskriminierungsarme Sprache zu diskreditieren. Wenn eine Person sagt, sie fühle sich durch das N-Wort verletzt, und das Gegenüber mit besagtem Satz reagiert, wertet es das Anliegen ab. Natürlich darf man sagen, was man denkt, aber es geht darum, wie man es sagt.
Kann es eine diskriminierungsfreie Sprache geben?
Sprache ist nicht nur ein Kommunikationsmedium, sie ist auch ein Machtmittel. Deshalb wird sie im Gebrauch nie frei von Diskriminierungen sein. Aber wir können sie diskriminierungsarm machen, wenn wir denn wollen.
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