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Hüben und drüben. (02/2023)

Europa verliert seine Glaubwürdigkeit.

Interview: Urs Hafner

Im Mittelmeer ertrinken jährlich Tausende von Menschen. Die Schweiz könnte sich engagieren, die Situation zu verbessern, sagt Rechtswissenschaftler Peter Uebersax.

Ein hoher Zaun bei Nacht im Scheinwerferlicht
Mit den Abkommen von Schengen und Dublin und der Gründung der Grenzschutzagentur Frontex wird Europa zu einer Festung. Das war anfänglich anders gedacht, sagt Peter Uebersax. (Foto: unsplash, Phil Botha)

UNI NOVA: Herr Uebersax, auf Hauswänden sieht man zuweilen die Slogans «No Borders» und «Grenzen töten». Was geht Ihnen durch den Kopf, wenn Sie das lesen?

Peter Uebersax: Es sind nicht Grenzen, die töten, sondern Staaten, die ihre territorialen Grenzen bewachen oder schliessen. Das besagt der Slogan im übertragenen Sinn. Es sind die Menschen, die Grenzen zwischen Ländern ziehen. Zugleich überschreiten Menschen staatliche Grenzen, und zwar seit jeher gegen alle Widerstände. Der Mensch war schon immer ein Migrant. Während totalitäre Staaten dazu neigen, ihre Grenzen dichtzumachen, auch um die eigene Bevölkerung an der Ausreise zu hindern, haben offene und freie Gesellschaften durchlässige Grenzen, die den Austausch ermöglichen.

Die Europäische Union sieht sich als offenes und demokratisches Gebilde, an ihrer Grenze am Mittelmeer sterben jedoch jährlich Hunderte von Migrantinnen und Migranten.

Mit den Abkommen von Schengen und Dublin und der Gründung der Grenzschutzagentur Frontex wird Europa zu einer Festung. Das war anfänglich anders gedacht: Die beiden Abkommen sollten die Asylverfahren der einzelnen EU-Staaten harmonisieren und die Grenzen zwischen ihnen abschaffen. Die Europäerinnen und Europäer sollten ein positives Bild von der zusammenwachsenden EU gewinnen. Doch mittlerweile führen Sicherheitsbedenken zur zunehmenden Befestigung der Aussengrenze der EU, und damit wird Europa auch gegen Flüchtlinge und Migranten aus Afrika und Asien abgeschottet. Europa ist daran, seine Glaubwürdigkeit zu verlieren: Wir predigen der Welt die Menschenrechte, während wir Hilfsorganisationen verbieten, Menschen vor dem Tod zu retten.

Die Schweiz hat die Schengen- und Dublin-Abkommen unterzeichnet, trägt Frontex mit und ist damit Teil der Festung Europa. Sie könnte sich dagegen auf ihre humanitäre Tradition berufen. Soll sie sich für die Abschaffung der Grenzen einsetzen?

So weit ist die Menschheit noch nicht, dafür müssten erst einmal die Grenzen in unseren Köpfen und Herzen fallen. Zum jetzigen Zeitpunkt würde die freie Migration aufgrund der ethnischen, kulturellen und religiösen Differenzen, die zwischen Menschen bestehen, zu Konflikten führen. Die Frage lautet, wie gross die Aufnahmebereitschaft einer Gesellschaft ist. In der Regel kommt sie rasch an ihre Grenzen, auch in der Schweiz. Aber die Schweiz könnte sich dafür einsetzen, dass Europa legale Korridore für die Flüchtlinge aus Afrika und Asien einrichtet, damit sie wenigstens die Chance erhalten, in Europa um Schutz zu ersuchen. Und die Schweiz könnte sich für die Wiedereinführung des Botschaftsasyls stark machen, damit die Menschen wieder von ihrem Herkunftsland aus Asyl beantragen könnten. Das würde die irreguläre Migration über das Mittelmeer verringern und Menschenleben retten. Flüchtende werden jetzt menschenrechtswidrig auf das Meer oder weg von der Landesgrenze gedrängt (Pushbacks). Wir tragen eine moralische und politische Mitverantwortung für diese Geschehnisse.

Ist das Recht auf Asyl kein Menschenrecht?

Nein. Ob ein Staat Asyl gewährt oder nicht, liegt ganz in seinem Ermessen. Wen er unter welchen Bedingungen in sein Territorium eintreten und wie lange bleiben lässt, kann er weitgehend selbst bestimmen. Völkerrechtlich gilt lediglich der Schutz vor Rückschiebung in einen potenziellen Verfolgerstaat (Non-Refoulement). Die Genfer Flüchtlingskonvention anerkennt dafür nur Gründe, die konkret auf das Individuum bezogen sind: Die Person muss verfolgt und bedroht werden, damit sie als Flüchtling anerkannt wird. Wer zum Beispiel vor einem Krieg flieht, erhält deswegen keinen Asylstatus, und auch nicht, wer in der Fremde ein besseres Leben sucht, selbst wenn er dafür seinen Tod riskiert.

Macht die Schweiz für die Ukrainerinnen und Ukrainer, die von Russland überfallen wurden, eine Ausnahme?

Jein, auch die Ukrainer erhalten kein Asyl, aber den sogenannten Schutzstatus S als temporären Schutz, der sie gegenüber den Kriegsvertriebenen aus Syrien, Afghanistan und dem Irak privilegiert. Diese besitzen nur den prekären Status F: Sie sind «vorläufig aufgenommen», dürfen nicht ins Ausland reisen, zu Beginn nicht arbeiten und während zweier Jahre keine Familienangehörigen nachkommen lassen. Doch Syrerinnen haben die gleichen Bedürfnisse wie Ukrainer, auch sie wünschen sich Familienleben, Erwerbstätigkeit und Reisefreiheit. Die unbürokratische Aufnahme der Ukrainer ist mit Blick auf die Harmonisierung des Vorgehens mit der EU und der Entlastung des Asylsystems zu rechtfertigen. Hingegen sind die Statusunterschiede rechtlich fragwürdig.

Hat eine Person Anrecht auf Asyl, wenn sie vor den Folgen der Klimaerwärmung flieht, vor der tödlichen Hitze?

Nein. Ob sich das ändert, ist offen, denn die Staaten sind zurzeit nicht bereit, sich zu verpflichten. So wie die Genfer Flüchtlingskonvention in Reaktion auf den Zweiten Weltkrieg entstanden ist, könnte die Staatengemeinschaft allerdings dereinst völkerrechtlich auf die Klimaerwärmung reagieren. Bereits werden rechtsphilosophische Modelle diskutiert. Eines besagt, dass die Länder im Norden im Rahmen ihrer Kapazitäten verpflichtet sind, Klimabetroffene aufzunehmen. Vorderhand entscheidet jeder Staat selbständig.

Was würde das für die Schweiz bedeuten?

Ihre viel beschworene humanitäre Tradition wird auf die Probe gestellt werden. Vermutlich wird es weniger um die direkte Aufnahme von Klimavertriebenen gehen als darum, sie von stärker belasteten Staaten zu übernehmen. Wie gross die Bereitschaft der Schweizerinnen und Schweizer zur Überwindung ihrer inneren Grenzen in Kopf und Herz ist, wird sich zeigen.

Dieses Gespräch fand Mitte August 2023 statt.


Weitere Artikel in dieser Ausgabe von UNI NOVA (November 2023).

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