00:00:00:24 - 00:00:37:20 Ulrike Langbein Wir definieren in der Kulturanthropologie Mode als eine grundlegende Ausdrucks- und Vollzugsform von Gesellschaft. Im Zivilisationsprozess wird die Körperlichkeit immer mehr zurückgedrängt. Mode selbst meint eben nicht die hübschen Kleider, nicht das Neue, nicht nur das Schöne, sondern dass der Mensch seinen Körper wie ein Display nutzt, um bewusst oder unbewusst Botschaften in die Welt zu setzen. 00:00:37:22 - 00:01:14:05 Jeannine Borer Willkommen zu Unisonar, dem Wissens-Podcast der Universität Basel. Mein Name: Jeannine Borer. Immer mehr Menschen versuchen bewusst ihre körperlichen, mentalen, emotionalen und oder kognitiven Fähigkeiten zu steigern. Das heisst, sie optimieren sich selbst. Warum tut der Mensch das? Was bringt das? Und gibt es auch Grenzen der Selbstoptimierung? In den fünf Folgen dieser Staffel schauen wir uns mit Expert*innen der Universität Basel fünf Bereiche der Selbstoptimierung an, und heute dreht sich alles um die Mode. Kleider schützen uns und unseren Körper nicht nur von der Aussenwelt. 00:01:14:07 - 00:01:37:10 Jeannine Borer Sie sind auch Ausdruck und Projektion unseres Selbst. Wir stellen die Frage: Wie optimieren wir uns durch Kleidung? Bei mir zu Gast ist die Kulturanthropologin Ulrike Langbein. An der Universität Basel hat sie über die Kulturgeschichte der Unterwäsche geforscht, und seit kurzem arbeitet sie am Lehrstuhl Geschichte in Leipzig zu Mode als Transformation. Ganz herzlich willkommen, Ulrike Langbein! 00:01:37:11 - 00:01:43:21 Ulrike Langbein Danke für die Einladung und für dieses Gespräch. 00:01:43:23 - 00:01:55:14 Jeannine Borer Ich habe in der Einleitung eine Frage ganz offen gestellt, nämlich: Wie optimieren wir uns durch Kleider? Und ich möchte diese Frage gleich an Sie stellen. 00:01:55:16 - 00:02:29:09 Ulrike Langbein Gut, also ich würde vielleicht da gleich am Anfang, wie das Wissenschaftler*innen ja immer machen, sofort differenzieren. Optimierung würde ich unterscheiden von dem Begriff der Modellierung. Modellierung ist quasi eine Kulturtechnik, mit der Menschen ihren Körper formen. Und Optimierung wäre quasi die Modellierung des Körpers auf ein bestimmtes Ziel hin an ein Ideal heran. Ja, also wir haben eine Norm und der Körper wird dieser Norm entsprechend modelliert. 00:02:29:09 - 00:02:58:23 Ulrike Langbein Heisst, optimiert. Und, also ganz nüchtern betrachtet wäre diese Kulturtechnik der Optimierung eigentlich auch gar nichts Neues und vor allem auch kein Phänomen in unserer Gegenwart, sondern Menschen haben versucht, also auch in der Geschichte versucht, ihren Körper zu formen, ihn einzukleiden und damit quasi in die Welt zu stellen. 00:02:59:00 - 00:03:04:09 Jeannine Borer Und was sagt die Kleidung, die Kleider über uns Menschen aus? 00:03:04:11 - 00:03:37:09 Ulrike Langbein Na ja, wir definieren in der Kulturanthropologie Mode als eine grundlegende Ausdrucks- und Vollzugsform von Gesellschaft. Mode selbst meint eben nicht die hübschen Kleider, nicht das neue, nicht den letzten Schrei, nicht nur das Schöne, sondern quasi, dass der Mensch im Design seinen Körper wie eine Oberfläche, wie ein Display nutzt, um bewusst oder unbewusst Botschaften in die Welt zu setzen. 00:03:37:11 - 00:04:11:24 Ulrike Langbein Ja, und im Gegenzug werden wir ja auch über unsere Erscheinung gelesen. Gerade Intellektuelle haben mit der Tatsache manchmal ein Problem Da ist Oberfläche immer gleich oberflächlich. Ja, wir stehen in der Tradition der bürgerlichen Tiefenepistemik ja, die einem eigentlich nur dann Relevanz oder Bedeutung für die Wissenschaft zubilligt, wenn das tiefschürfend eben nicht körperlich, sondern extrem geistig und abstrakt ist. 00:04:12:01 - 00:04:21:16 Ulrike Langbein Und im Alltag machen wir ja aber die Erfahrung, dass wir mit offenen Augen durch die Welt sehen. Und natürlich nehmen wir uns auf den ersten Blick wahr. 00:04:21:18 - 00:04:38:07 Jeannine Borer Das heisst, wir sprechen heute, wenn wir über Mode und Kleidung und dann auch noch über Unterwäsche sprechen, nicht über trendige Mode, sondern über die Erscheinung, die Darstellungsform, die durch Kleider transportiert wird, einfach um das mal einzugrenzen oder auch auszugrenzen. 00:04:38:09 - 00:04:52:02 Ulrike Langbein Genau. Und in dem Sinne ist eben auch derjenige, der meint, er habe mit Mode überhaupt nichts am Hut. Oder jemand, der nackt ist, ist auch quasi im System der Mode zu sehen. 00:04:52:02 - 00:04:53:05 Jeannine Borer Man wirkt immer. 00:04:53:07 - 00:05:02:20 Ulrike Langbein Man wirkt immer und gerade eben der bewusste Verzicht auf etwas ist ja eine kulturelle Entscheidung. Ja, und damit eine Aussage. 00:05:02:22 - 00:05:16:01 Jeannine Borer Ja auch ein Statement. Genau. Ulrike Langbein Welche Gedanken haben Sie sich heute gemacht, damit Sie "richtig" in Anführungszeichen hier gekleidet hierher kommen für dieses Podcast Gespräch. 00:05:16:03 - 00:05:43:07 Ulrike Langbein Also zu allererst habe ich auf die Wetterapp geschaut. Die hatten unsere Vorfahren natürlich nicht zur Verfügung. Die hatten vielleicht Bauernregeln oder konnten den Himmel noch besser lesen, als wir das können. Also ich habe erst gedacht, was ziehe ich ein, damit ich nicht friere? Habe ich den Regenschirm dabei. Solche Sachen. Weil als Brillenträgerin ist man immer um die verregneten Brillengläser besorgt. 00:05:43:09 - 00:05:58:14 Ulrike Langbein Und dann habe ich gedacht okay, in der Schweiz bloss nicht zu dick auftragen, bloss nicht overdressed. Zurückhaltung ist Programm. Und deswegen sitze ich jetzt hier, wie ich hier sitze, mit einem weissen T Shirt und einer grauen Strickjacke darüber. 00:05:58:16 - 00:06:03:02 Jeannine Borer Aber es ist unglaublich viele Gedanken man sich machen muss oder tut. 00:06:03:04 - 00:06:10:02 Ulrike Langbein Na ja, das ist halt, wenn man Expertin ist, wird es eben nicht unbedingt leicht. Ja. 00:06:10:04 - 00:06:15:19 Jeannine Borer Welche Rolle spielt Modekleidung in Ihrem Alltag, wenn Sie nicht sich beruflich damit befassen? 00:06:15:21 - 00:06:35:17 Ulrike Langbein Also ich wollt gerade sagen noch als Wissenschaftlerin ist mir Mode als Mode eigentlich wurscht. Ja. Mich interessiert Sie als gesellschaftliche Ausdrucksform. Und privat, was soll ich dazu sagen? Also ich bewerte das nicht über. Ich habe eine Freude an guter Qualität und Marken langweilen mich. 00:06:35:19 - 00:06:47:24 Jeannine Borer Ulrike Langbein Sie haben sich als Kulturanthropologin mit der Unterwäsche sehr, sehr intensiv beschäftigt. Was fasziniert Sie am Thema Unterwäsche? 00:06:48:01 - 00:07:01:19 Ulrike Langbein Eigentlich, wenn Sie so fragen? Wieder genauso wenig wie an Mode als solcher. Bei mir geht es wieder darum, eigentlich Unterwäsche zu nutzen als eine Sonde, um die Regeln von Kultur und Gesellschaft zu verstehen. 00:07:01:21 - 00:07:05:05 Jeannine Borer Welche Erkenntnis fasziniert Sie an dieser Forschung? 00:07:05:07 - 00:07:37:15 Ulrike Langbein Also Ausgangspunkt für dieses Forschungsprojekt war ja das Firmenarchiv der Hanro in Liestal. Liestal war der Standort der Hanro, und die haben ein ganz, ganz wunderbares Firmenarchiv. Und wir haben ein Projekt vom SF seinerzeit bewilligt bekommen, um uns mit diesem Firmenarchiv zu befassen und unter anderem ist mir aufgefallen, dass in der ganzen Modeforschung eigentlich die Unterwäsche ignoriert wird. 00:07:37:16 - 00:08:12:24 Ulrike Langbein Ja, Mode ist am Sichtbaren orientiert. Unterwäsche ist in der Regel unsichtbar, wenn sie nicht durch irgendwelche Details aufblitzen soll, wie sichtbare Spaghettiträger. Oder denken Sie an den sichtbaren Stringtanga um 2000, der natürlich aus dem Baggie-Jeans rausblitzen sollte oder an barocke Strumpfbänder, die natürlich im Spiel der Koketterie auch sichtbar werden sollte. Von daher hat mich interessiert, was passiert denn eigentlich drunter? 00:08:13:05 - 00:08:40:14 Ulrike Langbein Wenn das drüber immer nur im Fokus der Mode steht, was passiert darunter? Und wenn es in der Mode Forschung um Unterwäsche überhaupt je gegangen ist, dann eigentlich immer nur um die stark sexualisierte Wäsche, sprich um Dessous, also um Dekorationskleidung. Nicht aber um die Teile der Wäsche, die uns umgeben und um mittelbar bezogen sind auf unseren Körper. 00:08:40:15 - 00:09:19:05 Ulrike Langbein Also Unterhosen unter Hemden, die Feuchtigkeit aufnehmen, die uns vor Kälte schützen, die den Körper aber auch modellieren. Und es ist eben nicht nur so, dass quasi die Wäsche drunter die Formen des Drüber modelliert und vorgeben kann. Denken Sie ans Korsett oder an BH. Oder bei den Männern gibt es ja auch Unterhosen mit Beschiss vorn und hinten. Wirklich? Ja, vor allem bei Sportkleidung, dass das alles imposanter wirkt, sondern es geht einfach auch um Fragen der Intimität. 00:09:19:05 - 00:09:33:15 Ulrike Langbein Insofern, dass wir Dinge verbergen, die in unserer Kultur mit Tabus besetzt sind. Und das ist Ausscheidung, das ist Sexualität. Und diese beiden grossen. 00:09:33:16 - 00:09:34:19 Jeannine Borer Hygiene auch noch. 00:09:34:19 - 00:10:07:12 Ulrike Langbein Na ja, Hygiene ist quasi eine. Ist schon das Draufgelegte auf die Ausscheidung. Und Ausscheidung wirklich in einem grossen Sinne gefasst. Also sowohl Schweiss wie Menstruation und Ausfluss auch plus genau Urin, Kot usw. Also die ganzen Dinge, die uns beschämen, würden wir hier nicht in Emotionsmanagement betreiben und damit auch im Körpermanagement und schauen, dass davon möglichst niemand was mitkriegt. 00:10:07:15 - 00:10:08:12 Ulrike Langbein Ja. 00:10:08:14 - 00:10:26:09 Jeannine Borer Wir kommen noch auf diese Art Ausscheidung und Unterwäsche als Schutz auch. Sie haben gesagt, niemand hat sich darum gekümmert. Was passiert denn drunter? Was passiert mit drunter? Warum ist das so wichtig? Weil es ist ja nicht sichtbar. Eigentlich direkt. 00:10:26:11 - 00:10:56:07 Ulrike Langbein Na ja, historisch gesehen war das so, dass mit der Unterwäsche die kostbaren Gewänder der Oberschichten vor den Ausdünstungen des Körpers geschützt werden sollten. Also wir reden ja von einer Zeit ohne Waschmaschine, mit kostbaren Stoffen, Seide, Brokat, die aufwendig verarbeitet wurden. Und um diese Oberbekleidung eben nicht waschen zu müssen, wurde quasi das Drunter notwendig und quasi die Kleidung von innen vor Verschmutzung zu schützen. 00:10:56:13 - 00:11:01:09 Jeannine Borer Heisst das auch, das Unterwäsche war früher Sache der Reichen? 00:11:01:11 - 00:11:33:09 Ulrike Langbein So muss man das schon sehen. Das ist wie in der Biologie: Jede Höherentwicklung bedeutet eigentlich auch Ausdifferenzierung. Und das System Kleidung differenziert sich natürlich nur bei denen aus, die sich mehr als ein Gewand leisten können. Hinzu kommt bei der Wäsche dann oft die Farbe Weiss, die eben nur für bestimmte Schichten auch Sinn machte. Einerseits, weil sie sehr aufwendig herzustellen ist, weiss es ja nicht von Natur aus weiss, sondern das muss gebleicht werden. 00:11:33:11 - 00:12:10:10 Ulrike Langbein Und andererseits ist es natürlich eine extrem empfindliche Farbe, die Verschmutzung sofort anzeigt. Das heisst, ich muss sie wechseln können, ich muss sie waschen können, ich brauch genug davon. Damit also quasi diese distinguierende Wirkung der Wäsche. Ich habe sie, sie ist weiss, auch funktioniert. Und vor diesem Hintergrund sind dann eben auch Redewendungen zu sehen wie die weisse Weste oder das Jungfräuliche Weiss also, dass man quasi mit der Farbe Weiss, nicht nur die Sauberkeit oder die Reinlichkeit verbindet, sondern das auch zu einem moralischen Begriff wird. 00:12:10:11 - 00:12:16:06 Ulrike Langbein Wer die weisse Weste hat, der hat sich eben nichts zuschulden kommen lassen. 00:12:16:08 - 00:12:23:12 Jeannine Borer Ich habe einen Satz gelesen, ich glaube, da haben Sie geschrieben oder gesagt: Die Unterwäsche unterscheidet uns vom Tier. Was meinen Sie damit? 00:12:23:16 - 00:13:18:16 Ulrike Langbein Na, ganz so habe ich es nicht geschrieben oder gesagt. Es geht im Grunde ja darum, dass im Zivilisationsprozess, der ja als eine stetige Höherentwicklung konzipiert wird, theoretisch. Es geht zurück auf Norbert Elias, dass im Zivilisationsprozess die Körperlichkeit immer mehr zurückgedrängt wird. Das höfische Ideal gab vor, dass man eben bei Tisch Besteck benutzt, dass man sich nicht mehr in die Hand schnäuzt, dass man nicht einfach in den Saal uriniert, sondern dass quasi diese Körperlichkeit immer stärker domestiziert und zurückgedrängt wird, privatisiert, ja auch privatisiert, aber erst mal eben aus der öffentlichen Situation verdrängt wird. 00:13:18:18 - 00:14:11:16 Ulrike Langbein Mit dem höfischen Ideal wird eben quasi diese zurückgedrängte Körperlichkeit zur Vorgabe, zur kulturellen Norm. Und deshalb wird alles, was wir quasi mit unseren Mitgeschöpfen, will ich mal sagen, gemeinsam haben Ausscheidung, Sexualtrieb, Fortpflanzung, Verdauung, all das wird plötzlich problematisch. Und vor dem Hintergrund kann man eigentlich das so zuspitzen, dass man sagt also Menschsein schien bedeutet zu haben, sich möglichst vom Tier zu unterscheiden und Kulturtechniken zu entwickeln, die den Menschen aus seiner biologischen, lebensweltlichen Umgebung mit anderen Lebewesen exponieren. 00:14:11:19 - 00:14:32:05 Ulrike Langbein Und diesen Prozess, den kann man richtig oder falsch finden. Das ist aber keine Kategorie. Ich beobachte nur, dass genau diese Dinge bedrohlich werden, die wir nicht kontrollieren können. Körperliche Abläufe, die wir nicht steuern können, die mit Ausscheidung und Sexualität zu tun haben. 00:14:32:07 - 00:14:35:01 Jeannine Borer Und welche Rolle spielt da die Unterwäsche? 00:14:35:03 - 00:14:44:03 Ulrike Langbein Na, die Unterwäsche ist quasi eine der Kulturtechniken, um den Körper so zu domestizieren, dass das eben nicht sichtbar wird. 00:14:44:05 - 00:14:47:01 Jeannine Borer Ja, das ist eben die Unterscheidung zum Tier. 00:14:47:03 - 00:14:49:00 Ulrike Langbein Genau. 00:14:49:02 - 00:15:11:15 Jeannine Borer Ich find's es ja schon auch interessant, weil die Unterwäsche man sieht es ja tatsächlich nicht direkt. Sie sagen es nicht, Sie modellieren das darüber aber auf jeden Fall oder können es modellieren. Und trotzdem ziehen wir ja andere Unterwäsche, je nachdem an, was wir gerade tun. Gehen wir an eine Gala. Habe ich vielleicht andere Unterwäsche, als wenn ich einfach normal arbeiten gehe. 00:15:11:19 - 00:15:25:08 Jeannine Borer Habe ich ein Date, ziehe ich eine andere Unterwäsche an. Das ist Selbstoptimierung in der Situation, weil ich mich so besser fühle. Sie ist aber nicht nur die Wahrnehmung von mir selbst. Je nachdem sieht ja die Unterwäsche gar niemand. 00:15:25:10 - 00:15:57:24 Ulrike Langbein Na ja, aber erst ihre eigene Wahrnehmung ist ja auch kulturell geprägt. Und das heisst, es würde sich quasi nicht nur die Frage der Angemessenheit auch in der Unterwäsche spiegeln, weil Oberbekleidung und Unterwäsche korrespondieren immer miteinander. Und selbst wenn die Wäsche vorblitz in einer Kontrastfarbe bezieht, sie sich ja dennoch auf die Oberbekleidung sieht, differenzieren die Unterwäsche genauso aus wie die Oberbekleidung, weil sie ihre Oberbekleidung differenziert. 00:15:57:24 - 00:16:00:05 Ulrike Langbein Das ist das ganze Geheimnis. 00:16:00:07 - 00:16:27:03 Jeannine Borer Sie haben schon mehrmals gesagt Mode ist eine Technik, um Körper zu formen, auch Körperideale zu formen. Wie gross ist eigentlich die Gefahr der Standardisierung der Körper? Heisst auch jetzt wieder in Anführungszeichen Eine normale Frau trägt einfach Konfektionsgrösse. So und so und was? Und dass wir alle uns selbst optimieren müssen. Dass wir in diese Norm reinkommen. 00:16:27:05 - 00:16:56:13 Ulrike Langbein Ja, also Standardisierung, das ist ein Phänomen, was quasi in der Modegeschichte relativ weit zurückreicht. Standardisierung meint ja eigentlich nichts weiter als die Abstraktion vom konkreten Körper. Und dann wird quasi eine Kategorie gebildet, die kann man Grösse nennen, unter der unterschiedliche Körper, also einzelne Körper, subsumiert werden können. Das ist im Grunde ja die Denkstruktur. 00:16:56:14 - 00:17:02:11 Jeannine Borer Das macht es einfach einfacher, weil nicht jede Person wahrscheinlich sich selber die Kleider schneidern kaum mit. 00:17:02:11 - 00:17:30:06 Ulrike Langbein Mit der Entstehung der Massenkonfektion wird es natürlich zur Bedingung, weil wir keine Masskonfektion mehr haben, die auf den Körper geschneidert wird. Es gibt die Massenkonfektion, die muss vom konkreten Körper abstrahieren und unterschiedliche Körper bedienen können. Wir haben aber das Phänomen der Standardisierung schon früher. Man denke an die Kleidung von Ordensfrauen. Denken Sie ans Militär. Also mit der Entstehung der beweglichen Heere. 00:17:30:10 - 00:18:01:06 Ulrike Langbein Das heisst, Sie bleiben nicht stehen und ballern aufeinander oder gehen sich sonstwie an die Kehle. Sondern man geht in die in die Front des anderen rein. Und damit wird notwendig, dass man Freund und Feind über die Kleidung voneinander differenzieren kann. Das heisst, ich brauche eine Uniform, mit der ich die einen so, die anderen so kleide. Und mit der Entstehung der Uniform wird es ja auch notwendig, dass wir vom konkreten Körper abstrahieren. 00:18:01:07 - 00:18:44:23 Ulrike Langbein Es muss ein Standard her. So, und die Konfektionsgrössen sind eben eine Form zu standardisieren. Da gibt es Kulturhistorisch dann auch jeweils andere Sets. Bei vielen Herstellern wird ja gar nicht mehr differenziert, bei den Frauen 34, 36 bis hin zu keine Ahnung wie, wie gross ja, sondern es wird eigentlich oftmals angeboten: X, S, M, L, XL. Damit löst sich die Modeindustrie von einem Grössensystem davor, 34/36/38 usw., was differenzierter war. 00:18:45:00 - 00:19:14:10 Ulrike Langbein Also in der Modewirtschaft ist es so, dass jede Naht Geld kostet. Ja, Modeindustrie hat die Aufgabe effizient zu arbeiten und Gewinne zu produzieren. Das heisst: Je weniger die quasi ihr Grössensystem ausdifferenzieren, umso weniger müssen sie Schnitte anpassen, umso globaler und einheitlicher werden die Grössen. Das hat für viele Frauen, wurde mir gesagt, von einem Hersteller auch einen positiven Effekt. 00:19:14:12 - 00:19:44:10 Ulrike Langbein Man nennt es in der Mode-Psychologie, habe ich gehört. Ich bin ja keine Psychologin, aber man nennt es die sogenannten friendly sizes. Oft sind es dann Doppel Grössen 34-36, 38-40 oder anders kombiniert. Und die Kundin, die kaufende Kundin, die eine, die friendly sizes kauft und eine 38 hat, denkt plötzlich, sie ist eine 36, ja Kundin und sagt: Super, das kaufe ich immer wieder die da passt mir die 36. 00:19:44:12 - 00:19:52:11 Ulrike Langbein Vor dem Hintergrund des schlanken, durchtrainierten Körpers wird quasi die kleinere Grösse zum Lockstoff. 00:19:52:13 - 00:20:17:09 Jeannine Borer Ein Beispiel, das mir bei der Lektüre aufgefallen ist und das mich wirklich ein bisschen beschäftigt, ist diese Geschichte mit den BHs. Dass ein Hersteller von BHs hat in der Grösse 70D und 80D 196 verschiedene Modelle und in der Grösse 110D eines. Was sagt das über unsere Gesellschaft? 00:20:17:11 - 00:20:48:15 Ulrike Langbein Aber auch in der Grösse 65D hat er nur eines. Also wir haben quasi die Abweichung nach unten und nach oben, werden nicht bedient. Das heisst, wir kriegen einen Produktionskorridor vorgesetzt, wo die Grössen verkauft und produziert werden, die am meisten über den Ladentisch gehen. Das ist ja in dem Fall nicht nur eine Setzung der Industrie, sondern was sich am meisten verkauft, wird am meisten bedient. 00:20:48:17 - 00:20:57:24 Jeannine Borer Also man kann nicht den Umkehrschluss machen, dass der weibliche Körper am Ende am ehesten wie eine 70D auch aussehen soll und man sich in diese Richtung entwickeln soll. 00:20:58:02 - 00:21:26:19 Ulrike Langbein Also man kann diese Perspektive einnehmen, ist darauf zu reduzieren, wäre aber unterkomplex, weil Marketing ist ja nicht blöd und und wenn wenn die BHs bei den Frauen nicht gekauft würden oder scheuern würden oder so, würden die das ja nicht mehr nicht mehr kaufen. Aber eben das ganz Kleine wird genauso wenig bedient wird das ganz Grosse oder eben viel, viel teurer. 00:21:26:21 - 00:21:59:14 Ulrike Langbein Dass quasi die grosse Büste über den Preis bestraft wird. Oder man muss wird in den Orthopädiefachhandel geschickt, dann wird es pathologisiert. Also ich habe in meiner Forschung das öfter gehört, wenn Hautärzt*innen berichten, dass stark, also wirklich krankhaft übergewichtige Frauen, die ja da über Ernährung auch nichts steuern können, dass die dann einfach den BH oft ganz weglassen, was dann aber zu Pilzerkrankungen führt, weil in den Hautfalten sich Schweiss ansammelt und einfach die Haut kaputt geht. 00:21:59:16 - 00:22:03:09 Jeannine Borer Gibt es einen Gender Gap in Sachen Kleidung? 00:22:03:11 - 00:22:31:21 Ulrike Langbein Also, da müsste ich modehistorisch noch mal ein bisschen weiter zurück gucken. Dass das System Mode in männlich und weiblich differenziert wird, ist quasi selber eine Zäsur in der Modegeschichte. Die hängt mit der Erfindung der Schnitttechnik zusammen, vorher und bis heute in anderen. In anderen Kulturen werden Gewänder um den Körper gewickelt und drapiert mit Nadeln, mit Gürteln. 00:22:31:23 - 00:22:58:13 Ulrike Langbein Also man wickelt oder hüllt den Körper im Grunde ein und abends kann man aus dem Sari quasi den Körper wieder raus schütteln. Ja, mit der Erfindung der Schnitttechnik. Es ist der Mathematik zu verdanken, die die Triangulation erfindet, also die Naturwissenschaften oder die Mathematik wirkt hier rein. Sie bietet die Möglichkeit, eine Fläche in Dreiecke zu zerlegen. Triangulation und das ist wichtig für die Schnitterfindung. 00:22:58:13 - 00:23:09:00 Ulrike Langbein Und mit diesem auf den Leib Schneidern tritt quasi das erste Mal überhaupt der biologische Körper durch die Kleidung durch. Vorher wird er ja verhüllt. 00:23:09:04 - 00:23:10:03 Jeannine Borer Wann war das? 00:23:10:07 - 00:23:36:04 Ulrike Langbein Das ist immer so eine schwierige Frage, weil bei vielen kulturellen Entwicklung also man sagt ja, das Fahrrad ist an fünf Orten gleichzeitig oder zeitlich kurz versetzt erfunden worden. Damit tut man sich schwer, weil da auch die Quellen fehlen. Also man wird es sagen: Im Spätmittelalter könnte man das datieren, aber eben auch nicht für alle Räume. Aber das ist so vielleicht die grobe Richtlinie. 00:23:36:09 - 00:24:09:04 Ulrike Langbein So mit dem nach vorne tretenden Körper bietet sich der Mode die Möglichkeit einer Differenzierung. Und darauf springt sie an man kann plötzlich die einen Körper von den anderen unterscheiden. Und wir haben quasi diese diese, diese Entwicklung haben wir auch in der Sprache noch präsent. Der Taylor oder der Tailleur, das ist im Grunde der Taillenmacher. Ja, der die Kleidung eben auf den Leib schneidert und nicht mehr drum rum wickelt oder hüllt. 00:24:09:06 - 00:24:50:07 Ulrike Langbein Und bis zum Beginn des bürgerlichen Zeitalters hatten Männer und Frauen gleichermassen die Möglichkeit, sich als jetzt mal wirklich Mode im repräsentativen Sinne verwendet, sich über Mode auszudrücken, also höfische Kultur: Beide Geschlechter lassen es krachen. Ja, mit dem bürgerlichen Zeitalter werden die Geschlechterrollen viel stärker voneinander differenziert. Dem Mann wird die Aussenwelt zugewiesen, die Leistung, die Arbeit. Die Frau wird quasi zur Hüterin der Innenwelt, wird aber auch sein Modeaccessoire, weil an ihrem Aussehen sichtbar wird, was er für ein Geld verdient. 00:24:50:09 - 00:25:21:19 Ulrike Langbein Also da wird Mode wird im bürgerlichen Zeitalter weiblich kodiert. Das heisst, was wir heute vielleicht als Gender Gap wahrnehmen, ist ein historisches Produkt, gehört zur bürgerlichen Welt und hat sich in den letzten Jahren ja auch wahnsinnig geändert. Da hat Migration auch viele Räume, den Männern viele Räume eröffnet mit die so ein, wie soll man sagen, der deutsche oder schweizerische Alltagsmann vielleicht noch nicht immer umsetzt. 00:25:21:20 - 00:25:59:14 Ulrike Langbein Ja, aber das sind ja Einflüsse auch aus der aus anderen Kulturen gekommen, die genau so für eine Mobilisierung des männlichen Systems der Mode gesorgt haben, wie das David Bowie oder Freddie Mercury getan haben. Die sich von diesen zurückgenommenen, schwarzgekleideten, streng aussehenden Mann, der möglichst auf nichts anderes aufmerksam macht als auf seine Leistung deutlich entfernt hat. Also dann könnte man sagen: Der Mann, dem wird im bürgerlichen Zeitalter die Mode als Ausdrucksform weggenommen. 00:25:59:16 - 00:26:28:19 Ulrike Langbein Die Frau wird ihm viel stärker unterworfen. Ja, aber es bleiben natürlich Sphären, in denen der männliche Körper nach wie vor, also auch im bürgerlichen Zeitalter, massiv domestiziert wird. Man denke nur an Militäruniformen. Oder der bürgerliche Herrenanzug, der im Hochsommer ja auch kein, kein Vergnügen ist. Also ich wehre mich immer ein bisschen gegen die Perspektive, dass man so nur Frauen als Opfer der Modeentwicklung sieht. 00:26:28:21 - 00:26:39:11 Ulrike Langbein Einerseits ist es ihre Kapitalsorte gewesen und andererseits ist die Entwicklung für die Männer halt auch nicht nur ein Juhu gewesen. 00:26:39:13 - 00:26:46:14 Jeannine Borer Dann lassen wir das gerne so stehen und kommen zum Schluss und sagen: Ulrike Langbein, herzlichen Dank, waren Sie da. 00:26:46:19 - 00:26:49:22 Ulrike Langbein Vielen Dank für das Gespräch. 00:26:49:24 - 00:27:13:07 Jeannine Borer Das war Unisonar, der Wissens-Podcast der Universität Basel mit meinem Gast, der Kulturanthropologen Ulrike Langbein. Wir freuen uns über Fragen, Kommentare und Reaktionen zu diesem Podcast. Schreibt uns unter podcast@unibas.ch. Und nicht vergessen: Diesen Kanal kann man dann abonnieren, wenn man über die neuesten Folgen informiert sein will. Produzent dieser Staffel Christian Heuss. Mein Name Jeannine Borer.