00:00:01:22 - 00:00:38:00 Markus Neuenschwander Lehrpersonen haben höhere Erwartungen an die Leistungen von Buben im Fach Mathematik und höhere Erwartungen an die Leistungen in Deutsch bei Mädchen als die Leistungen dies rechtfertigen würden. Tatsächlich sagen jetzt diese Modellrechnungen, dass wir erstaunlich gut Bildungsabschlüsse aufgrund der Situation in der Primarschule vorhersagen können. Faktisch ist diese Bildungsgerechtigkeit in der Schweiz nicht realisiert. 00:00:38:02 - 00:01:09:00 Catherine Weyer Hallo und herzlich Willkommen bei Unisonar, dem Wissens-Podcast der Universität Basel, heute mit dem Bildungswissenschaftler Professor Markus Neuenschwander und der Frage, wie gerecht Bildung sein kann. Mein Name ist Catherine Weyer. Bei Unisonar tauchen wir mit Expert*innen der Universität Basel auf den Grund ihrer wissenschaftlichen Forschung. In dieser Staffel sprechen wir über Gerechtigkeit. Herr Neuenschwander, Sie haben eine Professur am Institut für Bildungswissenschaften, das an der Universität Basel und der Fachhochschule Nordwestschweiz angesiedelt ist. 00:01:09:02 - 00:01:12:17 Catherine Weyer Welche Rolle spielt das Thema Bildungsgerechtigkeit in Ihrer Forschung? 00:01:12:19 - 00:01:32:21 Markus Neuenschwander Es spielt eine zentrale Rolle. Meine Motivation ist, dass Kinder unabhängig von sozialen Faktoren einen guten Bildungsverlauf haben, dass sie auch einen hohen Bildungsabschluss erreichen können und dass diese Bildungsabschlüsse auch nach Kriterien der Bildungsgerechtigkeit erfolgen können. 00:01:32:23 - 00:01:35:05 Catherine Weyer Was meinen Sie mit sozialen Faktoren? 00:01:35:07 - 00:02:14:04 Markus Neuenschwander Vielleicht müssen wir am Anfang kurz klären, was der Begriff Bildungsgerechtigkeit meint. Das ist ein kontrovers diskutierte Begriff. Grundsätzlich gehe ich davon aus, dass Menschen sich unterscheiden. Dass es also viele Individuen geht und das auch entsprechend Bildungsabschlüsse ganz unterschiedlich ausfallen, abhängig davon, welches individuelle Potenzial, welches biologische Potenzial sie haben. Ungerecht wäre dann, wenn nicht das biologische Potenzial den Bildungsabschluss oder den Bildungsverlauf bestimmt, sondern wenn soziale Faktoren hier eine zentrale Rolle spielen. 00:02:14:06 - 00:02:30:11 Markus Neuenschwander Zum Beispiel der soziale Hintergrund oder der Migrationshintergrund oder das Geschlecht. Ungerecht wäre dann ein Bildungsabschluss, wenn er nicht vom individuellen Potenzial bestimmt wird, sondern von sozialen Faktoren. 00:02:30:13 - 00:02:36:06 Catherine Weyer Und wann beginnt das Thema Bildungsgerechtigkeit? Sprechen wir da vom Eintritt in den Kindergarten oder sogar noch früher? 00:02:36:09 - 00:03:06:22 Markus Neuenschwander Grundsätzlich müssen wir davon ausgehen, dass sich Fragen der Bildungsgerechtigkeit bereits bei der Geburt stellen. Kinder werden in sehr unterschiedliche Familien hineingeboren. Familien, die die Kinder in hohem Ausmass fördern können, bereits im ersten Lebensjahr oder andere Familien, welche in geringerem Ausmass zu dieser Förderung in der Lage sind. Diese unterschiedliche familiäre Förderung geht dann weiter bis zum Kindergarten, bis in die Schule, bis ins Erwachsenenalter. 00:03:06:24 - 00:03:19:03 Markus Neuenschwander Und es gibt dann eigentlich in verschiedenen Phasen des Lebens immer wieder Situationen, in welchen Prozesse der Bildungsgerechtigkeit analysiert werden können. Aber es beginnt bei der Geburt. 00:03:19:05 - 00:03:24:22 Catherine Weyer Ist die Institution Schule nicht in der Lage, diese familiären Förderungen auszugleichen? 00:03:24:24 - 00:03:57:03 Markus Neuenschwander Die Studienlage, inwiefern Schulen zu Bildungsgerechtigkeit oder aber zu Bildungsungerechtigkeit beiträgt, sind etwas widersprüchlich. Es gibt Studien, die zeigen, dass Herkunftseffekte während der obligatorischen Schulzeit zunehmen. Und es gibt andere Studien, die zeigen, dass die Herkunftseffekte über die Schuljahre etwa gleich stark bleiben. Grundsätzlich haben wir den Befund, dass Kinder abhängig von der familiären Herkunft mit sehr unterschiedlichen Kompetenzen und Interessenlagen in den Kindergarten und dann in die Schule eintreten. 00:03:57:03 - 00:04:15:11 Markus Neuenschwander Das heisst, bei der Einschulung finden wir bereits sehr grosse Unterschiede, die eigentlich soziale Ursachen und nicht biologische Ursachen haben. Die Schule hat grundsätzlich den Auftrag, alle Kinder zu fördern und so auch einen Beitrag zu leisten zur Bildungsgerechtigkeit. 00:04:15:13 - 00:04:20:19 Catherine Weyer Mit dem Eintritt ins Schulsystem beginnen auch die Selektionsverfahren. Laufen die denn gerecht ab? 00:04:20:24 - 00:04:56:10 Markus Neuenschwander Grundsätzlich gibt es einen gewissen Konsens, dass das Bildungssystem gerecht sein soll. Empirisch finden wir aber Abweichungen. Bereits beim Eintritt in die Schule haben wir ja den Effekt, dass Kinder aus Arbeiterfamilien oder Kindern mit Migrationshintergrund häufiger in eine Einschulungsklasse zugewiesen werden und nicht einen Übertritt direkt in die Regelschule schaffen. Mit Einschulungsklasse meine ich, dass der Stoff des ersten Schuljahres in zwei Schuljahren erworben wird. 00:04:56:12 - 00:05:07:10 Markus Neuenschwander Wir haben solche Herkunftseffekte bereits beim Übergang vom Kindergarten in die Primarschule beobachten können. Für die Schweiz, aber auch für andere Länder. 00:05:07:12 - 00:05:10:09 Catherine Weyer Und wie erklärt man sich diese Ungerechtigkeit? 00:05:10:11 - 00:05:54:04 Markus Neuenschwander Es gibt verschiedene Erklärungszugänge. Erstens haben wir den Befund, dass die Familie in hohem Masse zum Kompetenzzuwachs der Kinder beiträgt. Das heisst die Eltern und wie sie ihre Kinder erziehen, wie sie ihre Kinder fördern, welche sozialen Interaktionen es in der Familie gibt, trägt wesentlich dazu bei, wie hohe Kompetenzen und die Kinder entwickeln. Man spricht von primären Herkunftseffekten, also abhängig vom sozioökonomischen Status der Familie entwickeln Kinder unterschiedlich hohe Kompetenzen und je nachdem, ob sie höhere oder tiefere Kompetenzen entwickeln, zum Beispiel schulische Kompetenzen oder soziale Kompetenzen, manuelle oder sprachliche Kompetenzen, haben sie bessere Chancen, 00:05:54:06 - 00:06:23:18 Markus Neuenschwander den direkten Übertritt in die Primarschule zu schaffen. Daneben gibt es auch diese sogenannten sekundären Herkunftseffekte. Das heisst, Eltern haben bei der Einschulung ein Mitspracherecht. Das heisst, Eltern werden angefragt und um eine Meinung gebeten, ob ein Kind ein drittes Kindergartenjahr machen soll, ob es in eine Einschulungsklasse übertreten soll oder aber ob es den direkten Übertritt in die Regelklasse machen soll. 00:06:23:20 - 00:06:59:22 Markus Neuenschwander Und da zeigen Studien, dass abhängig vom sozioökonomischen Status der Familie Eltern unterschiedliche Aspirationen haben, also dass Eltern mit akademischem Hintergrund häufiger den Anspruch haben, dass ihr Kind im Bildungssystem einen Vorteil hat, den direkten den Übertritt schafft, sollte dann später beim Übertritt in die Sekundarstufe eins in ein Schulniveau mit höheren Anforderungen übertreten kann. Das heisst, die Eltern bringen je nach sozioökonomischen Status unterschiedliche Aspirationen mit in die Diskussion ein und können diese dann im Gespräch mit Lehrpersonen auch eher durchsetzen. 00:06:59:23 - 00:07:23:08 Markus Neuenschwander Das sind die sekundären Disparitäten, das heisst die Kombination von je nach Familie, unterschiedlicher Förderung, die dann zu Kompetenz führen und andererseits die direkte Mitsprache von Eltern abhängt, vom sozioökonomischen Status, die dann in Übertrittsgesprächen eingebracht werden, führen zu erheblichen Unterschied in der Bildungsbeteiligung. 00:07:23:10 - 00:07:32:03 Catherine Weyer Können Kinder diesen Nachteil aus eigener Kraft aufholen oder reproduziert sich da der sozioökonomische Status der Familie? 00:07:32:05 - 00:08:00:01 Markus Neuenschwander Das ist eine Frage, zu der es viel Forschung gibt. Wir haben selber dazu auch einige Projekte durchgeführt. Grundsätzlich haben wir relativ starke Reproduktionseffekte finden müssen, sowohl in der Schweiz. Man findet solche Effekte auch in anderen Ländern. Das heisst, es gibt zwar durchaus eine gewisse soziale Mobilität in dem Sinne, dass Kinder aus Arbeiterfamilien auch einen Bildungsabschluss mit höheren Anforderungen erreichen können. 00:08:00:01 - 00:08:18:11 Markus Neuenschwander Ob diese soziale Mobilität ist insgesamt klein. Das heisst, es sind relativ wenige Kinder, die einen solchen Bildungsaufstieg schaffen. In der Regel erreichen die Kinder etwa einen ähnlichen Bildungsabschluss, wie die Eltern ihn erreicht haben. Das wäre tatsächlich soziale Reproduktion. 00:08:18:13 - 00:08:23:12 Catherine Weyer Und ist kein Wille da, das zu ändern? Oder sind die Hürden einfach zu hoch? 00:08:23:14 - 00:08:53:07 Markus Neuenschwander Ich glaube, dass wir in der Gesellschaft einen gewissen Konsens haben, dass wir Bildungsgerechtigkeit uns wünschen. Gleichzeitig ist es aber auch eine Frage der Priorität. Ist jetzt Bildungsgerechtigkeit ein hoher Wert oder aber ist das ein nice to have? Sind wir bereit, zum Beispiel als Lehrerin oder als Lehrer einen Konflikt mit Akademikereltern einzugehen, so dass eine gerechte Entscheidung durchgesetzt würde, auch gegen den Willen der Eltern? 00:08:53:07 - 00:09:29:20 Markus Neuenschwander Oder sind wir dazu nicht bereit? Ich mache ein konkretes Beispiel Ein Arzt, ein Vater, möchte, dass das Kind zum Beispiel ins Gymnasium übertritt. Die Leistungen sind so, dass ein Gymnasiumsübertritt, nicht wirklich gerechtfertigt werden kann. Also es gibt hier eine Differenz zwischen den Leistungen, welche das Kind zeigt, und den Bildungsaspirationen des Vaters. Der Vater wird viele Wege suchen und im Gespräch mit Lehrpersonen sich auch sehr engagiert dafür einsetzen, dass seine Ziele für das Kind erreicht werden. 00:09:29:22 - 00:10:10:10 Markus Neuenschwander Im Unterschied dazu sind vielleicht Eltern aus Arbeiterfamilien in geringerem Masse bereit und willens, solche Übertrittsentscheidungen in Schulniveau mit hohen Anforderungen durchzusetzen. Ist jetzt eine Lehrerin bereit zu kämpfen und zu sagen Nein, die Leistungen des Kindes sind nicht gut. Ein Übertrittsentscheid ins Gymnasium ist nicht zu rechtfertigen und riskiert dadurch ein Konflikt mit diesem Vater. Oder aber, sagt sie sich auch dieser Vater wird in jedem Fall einen Weg finden, dass das Kind zu dem Bildungsabschluss kommen wird, den der Vater sich gewünscht hat. 00:10:10:12 - 00:10:17:11 Markus Neuenschwander Ich glaube, das sind Gründe, weshalb wir diese Probleme der Bildungsungerechtigkeit im Schweizer Bildungssystem haben. 00:10:17:13 - 00:10:23:12 Catherine Weyer Wir haben jetzt über die Eltern gesprochen. Welche Rolle spielen denn die stereotypen Erwartungen der Lehrpersonen? 00:10:23:18 - 00:11:04:11 Markus Neuenschwander Aus verschiedenen Studien wissen wir, dass Lehrpersonen höhere Leistungsserwartungen haben an Kinder aus Akademikerfamilien als an Kinder aus Arbeiterfamilien. Das heisst, wir haben hier einen Mechanismus, wie sich soziale Ungleichheit reproduziert. Diese Erwartungen von Lehrpersonen sind nicht nur für die Leistungen der Kinder wichtig, sondern auch in Rechtsverfahren sehr zentral. Wenn Lehrpersonen höhere Erwartungen an die Leistungen eines Kindes haben, werden sie ein Kind auch eher zum Beispiel in ein Gymnasium empfehlen oder in einer Schulform mit höheren Anforderungen, als wenn die Leistungs serwartungen der Kinder tiefer sind. 00:11:04:13 - 00:11:35:21 Markus Neuenschwander Und dadurch quasi verstärken sich diese Herkunftseffekte, weil der sozioökonomische Status die Erwartungen und die Leistungen der Kinder von Lehrpersonen beeinflusst und diese Erwartungen selbst erfüllend sind, werden die Leistungen unterschiedlich stark zunehmen. Und in Übertrittsentscheidungen werden Kinder aus akademischen Familien eher ins Gymnasium übertreten. Also insofern sind diese Erwartungen oder diese Einstellungen, welche Lehrpersonen an das Kind richten, sehr zentral. 00:11:35:23 - 00:11:49:13 Catherine Weyer Betrifft das nur die Herkunft der Kinder oder betrifft es auch das Geschlecht, also beispielsweise dass Mädchen in mathematischen Fächern nicht so gut sein sollen und deshalb auch weniger oft Frauen Mathematik studieren? 00:11:49:15 - 00:12:20:16 Markus Neuenschwander Genau, das finden wir da genauso. Ich habe jetzt das am Beispiel der Herkunftseffekte erläutert. Man findet das auch in Bezug auf Effekte des Migrationshintergrunds und findet es fachspezifisch auch in Bezug auf das Geschlecht. Das heisst, Lehrpersonen haben höhere Erwartungen an die Leistungen von Buben im Fach Mathematik als die Leistungen die es rechtfertigen würden. Und Lehrpersonen haben im Durchschnitt höhere Erwartung an die Leistungen in Deutsch bei Mädchen aus die Leistungen, die es rechtfertigen würden. 00:12:20:19 - 00:12:27:14 Markus Neuenschwander Wir haben hier Überkreuz-Effekte, je nach Fach und Geschlecht, die aber im Prinzip nach dem gleichen Muster funktionieren. 00:12:27:16 - 00:12:37:14 Catherine Weyer Sind sich die Lehrpersonen dessen bewusst? Wird das adressiert oder war das ein schleichender Prozess, der nun einfach sich niedergeschlagen hat im Unterricht in der Schweiz? 00:12:37:16 - 00:13:07:18 Markus Neuenschwander Dieses Thema ist im Prinzip generell gültig, das heisst, es ist nicht eine Herausforderung, mit welchen Lehrpersonen alleine sich beschäftigen müssen, sondern mit dem Problem sind auch Richter oder Pfarrer oder Ärzte oder alle Menschen konfrontiert. Das ist ein allgemeines Thema. Das ist im Prinzip die Auseinandersetzung mit Stereotypen. Und die Menschen haben Stereotypen so, dass sie die Welt, die soziale Welt kategorisieren und strukturieren können. 00:13:07:18 - 00:13:38:23 Markus Neuenschwander Wir brauchen Stereotypen, um überhaupt denken und überleben zu können. Sie vereinfachen die Wahrnehmung und insofern sind sie auch verfälschend. Das heisst, wenn ich ein Stereotyp vom Arbeiterkind habe, dann nehme ich an, ein Arbeiterkind, so sagt es der Stereotyp, hat tiefere Leistungen oder das Stereotyp des Buben, sagt ein Bub. Er hat etwas bessere Leistungen in Mathematik. Oder der Stereotyp des Mädchens sagt: Die Leistungen des Mädchens in Deutsch sind überdurchschnittlich hoch. 00:13:39:00 - 00:14:07:23 Markus Neuenschwander Und wenn ich jetzt ein Kind wahrnehme, werden diese Stereotypen in der Regel aktiviert. Und ich nehme dann die Kinder so wahr, dass sie dem Stereotypen eher entsprechen. Und entsprechend ergeben sich solche Wahrnehmungsverschiebungen. Also das Thema ist nicht spezifisch für Lehrpersonen, sondern es ist allgemein. Lehrpersonen sind mit diesem Thema in der Ausbildung konfrontiert worden. Sie kennen im Prinzip diese Thematik. 00:14:08:00 - 00:14:32:23 Markus Neuenschwander Wie weit sie auch im Unterrichtsalltag bekannt und angewendet wird, ist unklar. Zumindest haben wir dazu jetzt eine Intervention entwickelt, eine Weiterbildung für Lehrpersonen, so dass Lehrpersonen sensibilisiert werden für solche Stereotype wie solche Beurteilung und Erwartungseffekte, was sein Beitrag leisten könnte zu mehr Bildungsgerechtigkeit in der Schule. 00:14:33:00 - 00:14:57:00 Catherine Weyer Sie haben in Ihrer Forschung sogenannte Bildungsaufsteiger*innen interviewt, um zu eruieren, woher der Erfolg kommt. Eine von ihnen ist Frau G. Einspieler Meine Eltern sind in den 60er Jahren in die Schweiz emigriert. Mein Vater arbeitete in einer Fabrik als Mechaniker meiner Mutter in einer Nähfabrik. Zu Hause redeten wir italienisch. Mit meinen drei Geschwistern habe ich mich aber auf Deutsch unterhalten. 00:14:57:02 - 00:15:23:10 Einspieler Wir lebten in einer sehr kleinen Wohnung. Dafür habe ich mich geschämt. Meine Eltern haben versucht, so wenig wie möglich aufzufallen. Sie wollten ins Schweizer Bild passen. Am Wochenende hat mein Vater oft Arbeit mit nach Hause gebracht und wir haben alle am Küchentisch Einzelteile zusammengeschraubt. Das war für mich ein Familienevent. Sonst haben wir uns oft mit italienischen Familien getroffen. 00:15:23:12 - 00:15:49:13 Einspieler Die Schule war für mich und meine Eltern immer etwas sehr Wichtiges. Meine Eltern konnten mich allerdings fachlich nicht unterstützen. Meine ältere Schwester half mir und Schulfreundinnen. Ich war eine sehr stille Schülerin und habe mich selten gemeldet. Trotzdem war ich eine gute Schülerin und konnte nach der Matura studieren und arbeite heute als Lehrerin. Catherine Weyer Wurde Frau G. Dank der Bildungsgleichheit zu einer Bildungsgewinnerin? Oder hatte sie einfach Glück mit ihrem privaten Umfeld? 00:15:52:18 - 00:16:17:06 Markus Neuenschwander Es ist etwas hart zu sagen, sie hatte Glück. Aber vermutlich liegt dort mehr die Wahrheit. Frau G. Hatte war sehr motiviert und sie hat sehr viel familiäre Unterstützung bekommen. Und das waren vermutlich in ihrem Fall starke Gründe, weshalb sie dann zu diesem Erfolg gekommen ist. Die Schule hat sie auf diesem Weg nicht gehemmt, hat sie nicht gebremst. Was sicher auch ein Verdienst der Schule ist. 00:16:17:12 - 00:16:48:08 Markus Neuenschwander Aber die Tatsache, dass alle Kinder gleich behandelt werden sollen in der Schule, würde wahrscheinlich einen solchen Bildungsaufstieg alleine noch nicht rechtfertigen. Es sind ja in der Regel viele Gründe, die zu einem Bildungsaufstieg führen, insbesondere weil solche Bildungsaufstieg eher selten sind. Es ist eine Kombination von hoher individuellen Motivation, von Fähigkeiten, familiäre Unterstützung, Ermutigung und dann halt vielleicht auch eine Schule, welche 00:16:48:14 - 00:17:24:09 Markus Neuenschwander motivierte Kinder, motivierte Mädchen unterstützt. Auch an diesem Beispiel kann man die Bedeutung von Leistungsserwartungen von Lehrpersonen sehen. Denn wenn Frau G. als Kind in der Primarschule über eine Lehrerin unterrichtet worden ist, welche an ihre Fähigkeit geglaubt hat, welche ihr gute Leistungen zugetraut hat, hat das Frau G. ermutigt, sich besonders anzustrengen, gute Leistungen zu erbringen, so dass sie dann auch eher in einen Bildungszug der Sekundarstufe eins mit höheren Anforderungen übertreten konnte. 00:17:24:11 - 00:17:39:04 Markus Neuenschwander Diese Beispiele von Bildungsaufsteiger*innen hat eigentlich auch sehr schön gezeigt, wie wichtig Lehrpersonen und ihre Erwartungen an die Kinder sind. Das erfolgreiche Bildungsverläufe überhaupt möglich sind. 00:17:39:06 - 00:17:50:19 Catherine Weyer Bei Frau G. ging es nicht in erster Linie darum, was die Herkunftseffekte sind, sondern da war ein biologisches Potenzial vorhanden und eine Lehrperson, die das nicht gehemmt hat. 00:17:50:21 - 00:18:14:22 Markus Neuenschwander Die es nicht gehemmt hat. Und vielleicht könnte man noch zusätzlich sagen, die eben diese Mädchen eine besondere Leistung zugetraut hat. Unabhängig davon, dass dieses Mädchen aus einer Familie, die etwas bildungsfern ist, stammte und hat, weil sie eine hohe Erwartung. Die Lehrperson hatte eine hohe Erwartung an dieses Kind. Das hat dem Kind geholfen, diesen Bildungsaufstieg zu gehen. 00:18:14:24 - 00:18:27:09 Catherine Weyer Wenn Sie jetzt sagen, dass Frau G. Glück hatte, bedeutet das im Umkehrschluss, dass Sie grundsätzlich bei jedem Kind voraussagen können, welchen Bildungserfolg es haben wird? Mit ein paar Ausnahmen. 00:18:27:11 - 00:19:01:21 Markus Neuenschwander Wie für eine Langschnittstudie durch die Studie Wirkungen des Selektion «Wiesel», in welchem wir Jugendliche vom fünften Schuljahr über zehn Jahre begleitet haben, ist eine Studie mit vielen Kindern. Wir haben etwa mit 1700 Schülern und Schülerinnen begonnen und haben auf diese Art eine Datengrundlage, um Bildungsverläufe vorherzusagen. Und tatsächlich sagen jetzt diese Modellrechnungen, dass wir erstaunlich gut Bildungsabschlüsse aufgrund der Situation in der Primarschule vorhersagen können. 00:19:01:23 - 00:19:44:16 Markus Neuenschwander Die Vorhersagen sind nicht perfekt. Das ist ganz wichtig. Wir haben auch eine gewisse Durchlässigkeit, wir haben eine gewisse Flexibilität. Es ist nicht alles determiniert, zum Glück. Aber es sind relativ gute Vorhersagen von Bildungsabschlüssen möglich. Das heisst, es gibt durchaus Prognosemöglichkeit. Und in diesen Prognosemodellen relevant sind auch wiederum die Leistungserwartungen von Lehrpersonen. Das ist der stärkste Faktor für Bildungsabschlüsse am Ende der Sekundarstufe zwei sind auch Erwartungen von Eltern, Leistungsserwartungen von Eltern in Deutschland mit zum Beispiel sind auch die effektiven Leistungen, welche Kinder zeigen, zum Beispiel im Deutsch und Mathematik im fünften Schuljahr. 00:19:44:18 - 00:20:15:20 Markus Neuenschwander Aber prognosestark ist leider auch das Geschlecht und seitens des sozioökonomischen Status, das heisst unabhängig von den Leistungen, unabhängig von den Leistungsserwartungen von Eltern und Lehrpersonen haben das Geschlecht und der sozioökonomische Status eine stark prognostische, also determiniert in der Wirkung. Aber nochmals die Vorhersagen sind weit von perfekt. Also wir haben vielleicht eine Varianz Aufklärung von gegen 80 % immerhin. Aber ja, es gibt auch viele Ausnahmen. 00:20:15:22 - 00:20:19:08 Catherine Weyer Ein weiteres Beispiel aus Ihrer Forschung ist Herr H. 00:20:19:10 - 00:20:43:22 Einspieler Meine Eltern kamen vor über 40 Jahren aus Griechenland in die Schweiz. Meine Eltern haben die Primarschule besucht und danach das Schneiderhandwerk gelernt, aber nie einen Schulabschluss gemacht. In der Schweiz konnten beide in diesem Metier arbeiten. Wirklich warm wurden sie mit der Schweiz nie. Zu Hause sprachen sie Griechisch. Mein Bruder und ich unterhielten uns auf Deutsch. Ich war immer ein guter Schüler. 00:20:43:24 - 00:21:14:05 Einspieler Im Kindergarten war ich eine Zeit lang in der Heilpädagogischen Sonderschule wegen meiner Aussprache. Meine Lehrer*innen waren aber immer sehr wohlwollend. Auf spezielle Unterstützung oder Förderung war ich nie angewiesen. Ich hatte auch nie das Gefühl, dass man mich wegen meines Migrationshintergrundes benachteiligt. Ich konnte sogar meinen Mitschülern Nachhilfe in Mathematik geben. Nach der Matura habe ich Geschichte, Osteuropäische Geschichte und Islamwissenschaft studiert. 00:21:14:07 - 00:21:28:09 Einspieler Diesen Abschluss habe ich in erster Linie wegen meines Talents geschafft. Es ist meiner Meinung nach aber wichtig, dass Schulen Angebote schaffen, wo Kinder und Jugendliche neben dem Unterricht Unterstützung erhalten. 00:21:28:11 - 00:21:34:09 Catherine Weyer Stimmen Sie Herrn H. zu, dass er seinen Bildungserfolg seinem, wie er es nennt, Talent zu verdanken hat? 00:21:34:11 - 00:22:14:07 Markus Neuenschwander Ich habe vor, ihn ein Modell, um Bildungsabschlüsse vorherzusagen kurz skizziert. Leistungen sind Teil dieses Modells. Das heisst, wenn jetzt dieser Herr H. tatsächlich sehr gute Leistungen gezeigt hat, vielleicht auch intelligent war, vielleicht auch motiviert war, ist das sicher ein wichtiger Faktor. Nach unserem Modell müsste man annehmen, dass die Leistungen alleine und die Motivation alleine nicht ausreicht, um diesen Bildungsaufstieg zu erreichen, sondern es braucht trotz allem auch von der Familie, von den Eltern eine gewisse Unterstützung oder zumindest nicht ein Widerstand, ein Bremsen. 00:22:14:09 - 00:22:49:16 Markus Neuenschwander Insofern hat wahrscheinlich Herr H. seine Deutung etwas zugespitzt formuliert. Aber es gibt Kinder, bei denen tatsächlich das individuelle Potenzial, die individuelle Motivation eine grosse Rolle spielt. Man müsste hier vielleicht noch ergänzen einen anderen Befund, den wir gesehen haben in unseren Daten, nämlich dass insbesondere im Grenzbereich bei Übertrittsverfahren in die Sekundarstufe eins oder auch beim Übertritt in die Sekundarstufe zwei Kinder mit Migrationshintergrund oder aus Arbeiterfamilien deutlich höhere Leistungen zeigen müssen. 00:22:49:18 - 00:23:11:17 Markus Neuenschwander Das heisst, die Leistungsanforderungen an Kinder mit Migrationshintergrund oder aus tiefen sozioökonomischen Lagen sind deutlich höher wie bei den anderen Kindern. Und insofern müssen die Kinder auch bessere Leistungen zeigen, damit sie einen Bildungsaufstieg schaffen. Sonst würde das gar nicht gehen. 00:23:11:19 - 00:23:17:08 Catherine Weyer Spielt es eine Rolle, wo diese Kinder zur Schule gehen, also ob sie eher in der Stadt sind oder auf dem Land? 00:23:17:10 - 00:23:42:11 Markus Neuenschwander Ja, das spielt auch eine Rolle. Wir wissen aus der Bildungsstatistik, dass die Übertrittsquoten zum Beispiel ins Gymnasium zwischen den Kantonen stark variieren, zum Beispiel hier in Basel Stadt sind die Übertritt Quoten im Vergleich sehr hoch. In anderen Kantonen der Schweiz sind die übrigens Quoten deutlich tiefer. Das heisst je nachdem, in welchem Kanton ich in die Schule gehe, habe ich a priori die höheren Chancen, ins Gymnasium überzutreten oder nicht. 00:23:42:13 - 00:24:10:14 Markus Neuenschwander Interessant ist, dass diese Übertrittsquoten nicht unbedingt mit den Leistungen zusammenhängen müssen, welche in diesen Kantonen gezeigt werden. Es gibt eine spannende Studie diese Überprüfung von Grundkompetenzen ÜGK in der Schweiz, die gezeigt hat, dass die Leistungen der Schüler und Schülerinnen im Kanton Basel-Staat im achten Schuljahr im kantonalen Vergleich vergleichsweise tief sind, obwohl die Übertritt Quote im Gymnasium besonders hoch ist. 00:24:10:18 - 00:24:44:22 Markus Neuenschwander Also im Prinzip hat man hier in Basel-Stadt die besten Chancen auf eine Gymnasiums-Zugang als zum Beispiel im Kanton Bern. Es gibt kantonale Unterschiede. Es gibt auch Unterschiede zwischen den Schulen. Wir wissen, dass in manchen Schulen die Leistungen der Schüler und Schülerinnen höher sind als in anderen Schulen. Wir haben das auch etwas präzise versucht zu quantifizieren und haben festgestellt, dass der Leistungsunterschied zwischen besonders leistungsstarken Schulklassen und besonders leistungsschwachen Schulklassen etwa dem Lernfortschritt eines Kindes in drei Schuljahren entspricht. 00:24:44:22 - 00:25:11:13 Markus Neuenschwander Das heisst, die Unterschiede zwischen leistungsstarken Klassen und den leistungsschwachen Klassen, die sind riesig. In einer leistungsstarken Klasse muss ich jetzt deutlich bessere Leistungen zeigen, um eine sechs zu bekommen, als in einer leistungsschwachen Klasse. Das heisst, wenn ich in einer leistungsschwachen Klasse bin, dann habe ich deutlich bessere Chancen auf Zuweisung in ein Schulniveau mit höheren Anforderungen, wie wenn ich in einer leistungsstarken Klasse bin. 00:25:11:15 - 00:25:41:16 Markus Neuenschwander Also insofern spielt es durchaus eine Rolle, in welche Schule ich gehe, in welchem Kanton ich zur Schule gehe. Also ich kenne konkret ein Beispiel zur Illustration von einem Kind, drittes Schuljahr, in einer Schule mit hohen Leistungsanforderungen. Da wurde über reduzierte individuelle Lernziele diskutiert und die Eltern waren mit der Situation unzufrieden. Sie sind dann umgezogen in eine andere Gemeinde. 00:25:41:18 - 00:26:13:01 Markus Neuenschwander Dort waren die Leistungen des Kindes dann gut und dieses Kind ist dann ins Gymnasium gegangen und hat heute einen Bachelor an einer Schweizer Universität erreicht. Weil das Kind umgezogen ist in eine andere Schule mit tieferen Anforderungen waren seine Chancen deutlich besser auf eine Gymnasiums Empfehlung, als wenn es in der ursprünglichen Schule geblieben wäre. Also es spielt durchaus eine Rolle, in welche Schule ich gehe, aber die Unterschiede zwischen den Schulen, zwischen Klassen, die sind riesig und die spielen in Bildungsverläufen eine Rolle. 00:26:13:03 - 00:26:34:10 Markus Neuenschwander Insofern stellt sich die Frage der Bildungsgerechtigkeit nicht nur in Bezug auf die soziale Herkunft, das Geschlecht Migration, sondern auch auf die Frage In welchem Kanton gehe ich zur Schule und in welche Schule, in welche Schule werde ich unterrichtet? Das hat für die Chancen für die individuellen Chancen auf einen Bildungserfolg einen grossen Einfluss. 00:26:34:12 - 00:26:42:07 Catherine Weyer Wir haben jetzt immer über Bildungsaufsteiger*innen gesprochen. Wie sieht es denn mit Bildungsabsteiger*innen aus? Ist das auch ein Phänomen? 00:26:42:09 - 00:27:16:10 Markus Neuenschwander Das gibt es auch. Selbstverständlich auch relativ selten, weil die meisten eben, wie gesagt, konform verlaufen. Das gibt es immer wieder. Wir haben diese Frage etwas weniger ausführlich analysiert bis jetzt. In der Regel spielt bei Bildungsabstieg und vor allem die Motivation der Schüler und Schülerinnen eine Rolle. So haben wir zum Beispiel festgestellt, dass Bildungsabstiege vor allem bei leistungsunmotivierten Neuntklässlern beim Übertritt in die Sekundarstufe zwei auftreten. 00:27:16:12 - 00:27:45:13 Markus Neuenschwander Der sozioökonomische Status spielt hier in der Regel eine geringere Rolle. Es sind also Jugendliche, die vielleicht den Schulleiter haben, die wenig motiviert sind, zu lernen, zu arbeiten, die dann vielleicht auch in einer gewissen Phase des Bildungsverlaufs nicht die Anforderungen erfüllen können und deswegen kommt es dann zu einem Bildungsaufstieg. Es sind meistens solche Motivationsfaktoren, die hier eine Rolle spielen. 00:27:45:15 - 00:27:59:22 Catherine Weyer In einigen Kantonen werden Stimmen laut, die das gängige Schulsystem wieder verändern möchten, weg von den Integrationsklassen und hin zu den sogenannten Kleinklassen. Glauben Sie, dass ein solcher Schritt sinnvoll ist, oder widerspricht er der Chancengleichheit? 00:27:59:24 - 00:28:33:04 Markus Neuenschwander Grundsätzlich ist diese Frage seit vielen Jahren diskutiert worden. Ich möchte daran erinnern, dass wir vor einigen Jahren in der Schweiz bereits solche Kleinklassen in der Schweiz geführt haben und dass man dann mit diesen Situation sehr unzufrieden war. Aus verschiedenen Gründen, auch aus Gründen der Bildungsgerechtigkeit. Und deswegen hat man sich dann für eine integriertere Situation entschieden. Ich persönlich plädiere grundsätzlich für eine integrative Schule in einer Schule, in welcher alle Schüler und Schülerinnen gemeinsam geschult werden. 00:28:33:06 - 00:29:19:20 Markus Neuenschwander Sind erstens die Lernzuwächse der Kinder grösser und zweitens sind stellen sich Fragen der Bildungsungleichheit in einem geringeren Mass. Ich möchte hier zum Beispiel an die skandinavischen Schulen erinnern. Finnland, Schweden, Norwegen. Dort erreichen die Kinder sehr gute Leistungen am Ende der Schulzeit. Und gleichzeitig führt dieses integrative System, welches dort realisiert ist, auch zu einer Abnahme von Bildungsungerechtigkeit. Wenn wir ein segregiertes Schulsystem haben, dann verstärken sich Fragen oder Probleme der Bildungsungerechtigkeit aufgrund der Selektionsverfahren, die dann entwickelt werden müssen und entsprechend nimmt die Bildungsungleichheit zu. 00:29:19:22 - 00:29:50:19 Markus Neuenschwander Natürlich müssen wir jetzt auch die Anliegen der Lehrpersonen wahrnehmen. Insbesondere hört man, dass der Umgang mit verhaltensauffälligen Kindern in der Schule anspruchsvoll ist. Ich kann natürlich diese Klage sehr gut nachvollziehen und auch verstehen. Wir brauchen Hilfestellungen für Lehrpersonen, so dass sie Kinder mit Verhaltensproblemen im Unterricht fördern können. Ich glaube, es ist unfair, wenn wir Lehrpersonen mit dieser Aufgabe allein lassen. 00:29:50:22 - 00:30:24:15 Markus Neuenschwander Wir müssen aber auch überlegen, was die Lösung sein könnte. Eine Spezialklasse für Kinder mit Verhaltensproblemen hatten wir bereits in verschiedenen Kantonen in früheren Jahren. Und sie hat sich nicht bewährt. Sie hat sich nicht bewährt, weil in Klassen mit vielen Kindern mit Verhaltensauffälligkeiten diese Verhaltensprobleme sich aufschaukeln und verstärken. Das heisst, wenn Kinder mit Verhaltensproblemen, mit anderen Kindern, mit gesunden Kindern zusammen geschult werden, dann nehmen diese Verhaltensauffälligkeiten am ehesten ab. 00:30:24:21 - 00:31:00:01 Markus Neuenschwander Das heisst, Spezialklassen führen zu einer Verstärkung des Problems, zumindest bei den betroffenen Kindern, und nicht zu einer Reduktion. Dazu kommt, dass es schwierig ist, Lehrpersonen zu finden, die solche Spezialklassen überhaupt unterrichten. Drittens kommt dazu, dass Kinder, welche in solche in solchen Spezialklassen mit negativen Labels konfrontiert sind, dass ihre Bildungschancen insbesondere auch beim Eintritt in die Berufsbildung, aber auch in höherer Schulen tiefer sind, als die Leistungen dies rechtfertigen würden. 00:31:00:03 - 00:31:21:16 Markus Neuenschwander Das heisst, Kinder mit Verhaltensproblemen sind mit zahlreichen Nachteilen verbunden. In solchen segregierten Schulsituation. Wir sollten einerseits darüber diskutieren, wie wir Integration gut umsetzen können, Aber wenn wir uns dagegen entscheiden, müssen wir uns auch Gedanken machen, was dann eine gute Alternative ist. Und ich glaube, die Alternative, die fehlt. 00:31:21:18 - 00:31:28:17 Catherine Weyer Wenn wir bei den Integrationsklassen bleiben, bedeutet das dann aber nicht, dass die leistungsstarken Kinder darunter leiden? 00:31:28:19 - 00:32:02:04 Markus Neuenschwander Es gibt einige Studien jetzt in der Schweiz und auch in anderen Ländern zu dieser Frage. Und die Befund Lager ist eigentlich immer die gleiche: Nein, die leistungsstarken Kinder leiden nicht unter der Integration von einerseits verhaltensauffälligen Kindern und andererseits von leistungsschwächeren Kindern. Es ist nicht ein Nachteil für diese Kinder. Ich glaube, die Hauptherausforderung liegt bei den Lehrpersonen, für welche es anspruchsvoll ist, solche Integrationsklassen zu führen, so dass es für sie als Lehrerinnen und Lehrer ein befriedigender Unterrichtssituation gibt. 00:32:02:06 - 00:32:10:10 Markus Neuenschwander Aber natürlich dürfen die Lehrpersonen nicht auf der Strecke bleiben. Wir müssen Arbeitsbedingungen haben, welche für Lehrpersonen gesund sind. 00:32:10:12 - 00:32:14:20 Catherine Weyer Weshalb haben Sie sich dafür entschieden, zum Thema Bildungsgerechtigkeit zu forschen? 00:32:14:22 - 00:32:45:19 Markus Neuenschwander Ich verfolge das Prinzip, dass alle Kinder gleiche Chancen haben sollen, dass alle Kinder die Schule besuchen dürfen, die Förderung erhalten, welche ihrem Potenzial am ehesten entspricht. Ich habe mir die Frage gestellt, unter welchen Bedingungen Kinder am besten und ohne Nachteile aufwachsen können. Das ist so quasi meine forschungsleitende Frage und da habe ich festgestellt, dass gewisse Kinder systematische Nachteile haben, eben zum Beispiel weil sie aus Arbeiterfamilien stammen. 00:32:45:21 - 00:33:21:15 Markus Neuenschwander Und das hat mich sehr gestört. Deswegen, weil ich davon ausgehe, dass es ein Recht auf Bildung gibt, dass jedes Kind so gefördert werden muss, wie es seinem Potenzial entspricht. Man könnte auch ökonomisch argumentieren, weshalb Bildungsgerechtigkeit so wichtig ist, nämlich: Wir haben einen Fachkräftemangel, und wir sollten alle Kinder möglichst nach jedem Potenzial fördern, so dass diese Kinder sich möglichst gut entwickeln können und so, dass sie auch möglichst viel Arbeitskraft dem Arbeitsmarkt zur Verfügung stellen können. 00:33:21:17 - 00:33:39:21 Markus Neuenschwander Um herauszufinden, wie diese Nachteile entstanden sind und weshalb es zu diesen Hindernissen kommt in Bildungsverläufen habe ich begonnen, mich mit dieser Thematik zu beschäftigen und habe dann lernen müssen, dass dieses Problem grösser ist, als ich ursprünglich befürchtet habe. 00:33:39:23 - 00:33:53:04 Catherine Weyer Wir haben jetzt gesprochen über den Einfluss der Herkunft, des Geschlechts, in welchem Kanton das man lebt, in welche Schule das man geht. Nach all dem: Gibt es eine Gerechtigkeit in der Bildung. 00:33:53:06 - 00:34:35:16 Markus Neuenschwander Rein theoretisch könnte man sich natürlich ein gerechtes Bildungssystem vorstellen, im Sinne vielleicht einer Utopie. Faktisch ist diese Bildungsgerechtigkeit in der Schweiz nicht realisiert. Ich würde aber nicht von einem Entweder-Oder sprechen wollen, sondern man kann etwas mehr Bildungsgerechtigkeit und man kann sich diesem Ideal, dieser Utopie etwas mehr nähern oder etwas weiter davon entfernt sein. Ich würde mich hier auf den Standpunkt setzen, dass wir uns so bemühen sollten, das Bildungssystem zu entwickeln und Bedingungen für Kinder zu schaffen, dass sie möglichst bildungsgerecht sind, dass wir diesem Ideal näherkommen. 00:34:35:18 - 00:34:55:13 Markus Neuenschwander Ob wir diese Ideale jemals erreichen, ist fraglich. Vielleicht nicht. Aber die Tatsache alleine, dass wir uns diesem Ziel nähern und dass wir es verfolgen und dass wir es auch als wertvoll erachten, überhaupt Bildungsgerechtigkeit einzufordern, das erscheint mir bereits lohnenswert. 00:34:55:15 - 00:35:22:16 Catherine Weyer Herr Neuenschwander, vielen herzlichen Dank! Das war unisono der Wissens Podcast der Universität Basel. Wir freuen uns über Ihr Feedback auf podcast@unibas.ch oder auf unseren Social Media Kanälen. In der nächsten Folge spricht der Soziologe Cornelius Friedemann Moriz über Gerechtigkeit im Kapitalismus, wieso die Schweizer*innen keine höheren Erbschaftssteuer wollen und weshalb die Politik der Ökonomie immer hinterherhinkt. Bis bald.