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«The Power of Wonder»: Warum wir auch heute noch staunen

Dem Staunen auf der Spur: Prof. Dr. Nicola Gess im Theater Fauteuil in Basel. (Bild: Universität Basel, Florian Moritz)
Dem Staunen auf der Spur: Prof. Dr. Nicola Gess im Theater Fauteuil in Basel. (Bild: Universität Basel, Florian Moritz)

Theatermaschinen, ein Kuriositätenkabinett oder ein Regenbogen – wir Menschen staunen über alles Mögliche. Die Germanistin Prof. Nicola Gess, Co-Leiterin des Forschungsprojekts «The Power of Wonder», erläutert im Gespräch, wie Staunen produziert und eingesetzt wird.

22. Oktober 2018

Dem Staunen auf der Spur: Prof. Dr. Nicola Gess im Theater Fauteuil in Basel. (Bild: Universität Basel, Florian Moritz)
Dem Staunen auf der Spur: Prof. Dr. Nicola Gess im Theater Fauteuil in Basel. (Bild: Universität Basel, Florian Moritz)

Frau Gess, über was haben Sie zuletzt gestaunt?

Über einen Strassenkünstler, der mich mit unglaublichen Zaubertricks sehr beeindruckt hat. Ich konnte mir wirklich nicht erklären, wie das funktioniert.

Was braucht’s denn, damit wir staunen?

Staunen wird ausgelöst durch Phänomene, die die Grenzen des Gewöhnlichen in Richtung des Unerwarteten, des Aussergewöhnlichen oder des scheinbar Unmöglichen überschreiten. Es hat nicht nur eine kognitive, sondern auch eine starke sinnliche und häufig auch eine imaginative Dimension.

Hat sich denn im Laufe der Zeit verändert, worüber wir Menschen uns wundern?

Vieles, was man früher als Wunder gedeutet hat, kann man heute naturwissenschaftlich erklären, etwa einen Regenbogen. Ausserdem gibt es Abnutzungs- und Gewöhnungseffekte. Dinge, die im 17. Jahrhundert noch Staunen auslösten – wie beispielsweise der Blick durchs Mikroskop – können uns heute nicht mehr unbedingt verwundern. Dafür andere Dinge, wie zum Beispiel spektakuläre Visual Effects im neuesten Blockbuster.

Wir leben ja in einer Kultur der spektakulären Effekte und technischen Möglichkeiten. Können wir denn heute überhaupt noch staunen?

Gerade in einer Kultur der Selbstdarstellung, wie wir sie erleben, wird vielleicht mehr denn je auf das Staunen und die Bewunderung des Rezipienten abgezielt. Man möchte den «Wow»-Effekt, man möchte «OMG» unter seinem Post stehen haben. Aber hier wird das Staunen eigentlich auf einen rein affirmativen Aspekt reduziert. In der philosophischen oder auch literarischen Tradition hatte und hat Staunen jedoch immer auch einen kritischen Aspekt.

Wo beobachten Sie das Phänomen Staunen in der Literatur?

Staunen ist für literarische Texte in vielerlei Hinsicht zentral, zum Beispiel gibt es sozusagen Szenen des Staunens. Zugleich versuchen Schriftsteller mithilfe entsprechender Verfahren, ihre Leser zum Staunen zu bringen, zum Beispiel durch den Theatercoup im Drama, durch die überraschende Metalepse im Erzähltext oder durch die ausgefallene Metapher im Gedicht. Auch in der rhetorischen Tradition können wir das Staunen beobachten, im erhabenen Stil beispielsweise, der ganz auf die Überwältigung des Zuhörers ausgerichtet ist. Es gibt ganz unterschiedliche Arten des Staunens in der Literatur.

Zum Beispiel?

Das Staunen bei Felicitas Hoppe, eine Gegenwartsautorin, hat viel mit Imagination zu tun. Sie ruft bestimmte Motive aus der Literatur des Wunderbaren auf – seien das Einhörner oder einfach wunderliche Phänomene – und verknüpft diese mit bestimmten, sehr komplexen Erzählverfahren, die den Leser kognitiv herausfordern.

Sie sind Co-Leiterin des neuen SNF-Sinergia-Projekts «The Power of Wonder» mit Partnern aus ganz unterschiedlichen Disziplinen. Was ist das Anliegen dieses Forschungsvorhabens?

Nachdem wir uns in einem Vorgängerprojekt mit literarischen, rhetorischen und allgemein ästhetischen Verfahren der Produktion von Staunen beschäftigt haben, fragen wir uns in dem neuen SNF-Sinergia-Projekt, wie diese Verfahren heute, aber auch in den letzten drei Jahrhunderten, in politischen, sozialen, wissenschaftlichen und nach wie vor auch künstlerischen Kontexten eingesetzt werden.

Können Sie ein paar Beispiele aus der Gegenwart nennen?

Autokratische Herrschertypen, wie sie gerade wieder auf dem Vormarsch sind, setzen häufig auf eine Dramaturgie der Bewunderung; dafür spielt auch das bereits erwähnte Self-Fashioning in den sozialen Netzwerken eine grosse Rolle. In der Werbung ist die gezielte Produktion von Überraschungseffekten ohnehin gang und gäbe. Verfahren der gezielten Staunensproduktion kommen aber auch zum Einsatz, um Forschungsaktivitäten publikumswirksam der Öffentlichkeit zu vermitteln, etwa auf Science Fairs, wie sie an Universitäten jetzt häufiger veranstaltet werden.

Oft funktioniert das ja nur, weil eine breite Masse staunt.

Auch das untersuchen wir: Soziale Dynamiken der Vergemeinschaftung von Bewunderung im Sinne eines geteilten Staunens. Das war auch für das Theater schon immer ganz zentral. Die Inszenierung auf der Bühne und die Produktion von Bewunderung «en masse» – im ganzen Publikum.

The Power of Wonder

Ob Staunen, Bewunderung oder Überraschung: Sie alle werden künstlich evoziert und in Diskursen der Macht, des Wissens und der Gesellschaft strategisch eingesetzt. Die Prozesse, Praktiken und Verfahren, die dabei zu beobachten sind, untersucht das binationale SNF-Sinergia-Projekt «The Power of Wonder. The Instrumentalization of Admiration, Astonishment and Surprise in Discourses of Knowledge, Power and Art» bezogen auf die letzten drei Jahrhunderte.

In dem Projekt, das von Prof. Mireille Schnyder (Universität Zürich), Prof. Nicola Gess, Prof. Hugues Marchal (beide Universität Basel) und Prof. Ulrich Bröckling (Albert-Ludwigs-Universität Freiburg) geleitet wird, arbeiten 12 Literaturwissenschaftler/innen, Kultursoziolog/innen und Wissenschaftshistoriker/innen in 7 Teilprojekten zusammen.

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