Eine Kamera, eine Hypothese und eine Schachtel Popcorn
Wie können filmische Erzähltechniken das Verständnis der eigenen Wissenschaftskommunikation erweitern? Fünf Postdocs und Doktoranden der Universität Basel haben am Filmfestival Locarno einen Workshop zu diesem Thema besucht. Was sie davon mitnehmen, fasst die Genderforscherin Yuliia Mieriemova zusammen.
23. August 2023 | Dr. Yuliia Mieriemova
Ich hatte einen Sitzplatz, eine lange Bahnfahrt vor mir und die Hoffnung, dass ich beim Workshop Gleichgesinnte treffen würde. Der Sitz half mir, mich zu erden, denn ich konnte mein Glück kaum fassen. Ich sass im Zug nach Locarno, sah mir morgens um 8 Uhr eine Seifenoper an und hoffte, Menschen zu treffen, die das Geschichtenerzählen in der Forschung nicht nur zu schätzen wissen, sondern mir auch beibringen können, wie man es macht.
Vor zwei Monaten hatte mich ein Kollege auf einer Konferenz gefragt, ob meine Forschung über Frauen und Krieg nicht eher ein Geschichtenerzählen sei als echte Forschung. Ich zauderte und ging wütend über mich selbst nach Hause – wütend, weil ich nicht überzeugend antworten konnte.
Als Postdoc in Gender Studies hätte ich mich auf eine weitere hitzige Debatte über die Gültigkeit des Wissens einlassen können, das wir hervorbringen, aber ich tat es nicht. Stattdessen entschied ich mich dafür, Menschen aus anderen Disziplinen zu finden, die wie ich der Meinung sind, dass das Erzählen von Geschichten unerlässlich ist: unerlässlich, um die Ergebnisse eines Forschungsprojekts zu zeigen und all die Leidenschaft zu vermitteln, die wir empfinden, wenn wir uns auf die Reise begeben, um das zu finden, was bisher unentdeckt geblieben ist.
Der Workshop «Storytelling and Storyboarding in Science» von Samer Angelone war ein anspruchsvolles Eintauchen in die Welt der Wissenschaft und der Filme, die durch eine Geschichte verbunden sind. Es begann schon lange bevor wir alle in Locarno zusammenkamen, denn wir mussten eine Zusammenfassung unserer Forschung vorbereiten, so als ob wir einem Freund davon erzählen würden, und das erforderte Arbeit. Später hatten wir Gelegenheit, über diesen ersten Versuch nachzudenken, indem wir lernten, wie wir das, was wir wussten und mit anderen teilen wollten, vereinfachen, vertiefen und prägnant vermitteln konnten.
Von der Step-Outline bis zu packenden Titeln, Slide-Design und effektiven Präsentationsmethoden: während der drei Workshoptage entfaltete sich langsam der Kern der Storyboarding- und Storytelling-Architektur. Mit den Werkzeugen zum Verständnis komplexer Erzählungen ausgestattet, sahen wir uns Filme anders an, bewusster und wertschätzender. Die Filmvorführung war nun eine andere Erfahrung, eine umfassendere, stärkere, bei der wir versuchten, jedes Detail, jede kleine Andeutung oder Anspielung zu sezieren, und dabei manchmal vergassen, dass wir den Film auch geniessen sollten, ohne alles zu intellektualisieren. Ich konnte nicht anders, wir waren ja schliesslich Wissenschaftler!
Eine der wertvollsten Erfahrungen und ein Privileg des Workshops war es, Filmemacher direkt nach dem Ansehen ihrer Filme zu interviewen. Es war aussergewöhnlich, Fragen stellen zu können, von ihren Geschichten zu lernen und darüber nachzudenken, wie wir unsere eigenen Geschichten in der Forschung erzählen können.
Individuelle Eindrücke aus dem Workshop
Als Experimentalphysiker arbeitet Debarghya Dutta mit den modernsten Kameras, um die Dynamik der Elektronen in der Materie zu fotografieren und zu verstehen. Jeden Abend, wenn die majestätische Leinwand auf der Piazza Grande aufleuchtete, sass er dort und nahm die exquisite Mischung aus Fotos, Emotionen und Musik in sich auf, die eine aussergewöhnliche Harmonie unter den 8000 Anwesenden erzeugte. Er konnte nur davon träumen, eines Tages einem breiten Publikum eine Geschichte über seine Theorie der wechselwirkenden Elektronen zu erzählen und es damit genauso zu begeistern wie er es in diesem Moment war.
Für den Nachwuchswissenschaftler David M. Azilagbetor, der sich mit den ethischen Aspekten von Tierversuchen in der Schweiz beschäftigt, wurde das Festival tatsächlich zum Leben erweckt. Seine Forschung erfordert eine intensive Auseinandersetzung mit der Öffentlichkeit; die Fähigkeit, Ergebnisse zu vermitteln, ist daher für seinen Erfolg unerlässlich. Er erkundete und beobachtete das Festival – das von gelben und schwarzen Mustern auf Bussen, Handtaschen, Schuhen, Bannern, Plakaten und Gebäuden in der Stadt nur so strotzte – und lernte von Fachleuten, wie man Forschungsgeschichten erzählt. Was für ein Versprechen von Freude, guten Filmen und belebenden Geschichten!
Die kulturelle Gewohnheit, sich zu versammeln, um ein Theaterstück zu sehen, wie im ersten Theater der Welt, dem Dionysos-Theater in Athen, fühlte sich für Olivia Denk wie eine echte Erfahrung an, die sie bei jeder ausführlichen Vorführung am Filmfestival Locarno machte. Als Doktorandin in klassischer Archäologie weiss sie genau, wo das Theater erfunden wurde. Ihre Studien konzentrieren sich auf das antike Griechenland, insbesondere auf die Halbinsel Chalkidiki, wo Aristoteles geboren wurde. Für sie war es verblüffend festzustellen, dass die Prinzipien dieses berühmten Philosophen bis heute im Storytelling verwendet werden.
Die Kraft der Originalität
Stehen Sie für Ihre Originalität ein? Nach dem Schwimmen denkt Dr. Sibylle Künzler, Postdoc in Kulturanthropologie, über die persönlichen Tipps nach, die die Filmemacher während der Interviews gegeben haben. Sie sitzt am Ufer und lässt den Blick über das glitzernde Wasser schweifen: Theorieunterricht, Interviews und Filmvorführungen; Originalität in all ihren Bedeutungen wie Einzigartigkeit, Eigenlogik und Erfindungsreichtum ist für ihr Fach deshalb so sinnvoll, weil die qualitative Forschung mit Fallstudien arbeitet und die Perspektive des Forschers kritisch reflektiert. Gerade das Panorama der möglichen Einzelfälle und die qualitativen Unterschiede sind es, die Sibylle Künzler so begeistern. Jeder Film, den die Gruppe bisher gesehen hat, ist auf seine Weise einzigartig, und doch versucht das Publikum, ihn zu verstehen. Sie sagt, dass Filme geradezu dazu verführen, einen anderen Blickwinkel auf einen bekannten Sachverhalt einzunehmen.
Ivan Skakov, Doktorand in Computational Biology an der Universität Neuenburg, war fasziniert von dem Kontrast zwischen kommerziellen und unabhängigen Filmen. Was für ein Unterschied es ist, einen selbst geschriebenen Film zu erleben, der keine Zwänge, Regeln oder Erwartungen erfüllen muss. Man muss die Regeln kennen, um zu verstehen, dass man sie brechen kann, was bei kommerziellen Filmen fast unmöglich ist, da immer die Gefahr besteht, dass das Spiel mit dem Publikum verloren geht. Auf seiner Forschungsreise zur Entwicklung der Genomarchitektur möchte er deshalb unbändige Autorenfilme erkunden.
Warum sitzen wir alle hier in einer heterogenen Gruppe von Forschenden, die aus so vielen verschiedenen Disziplinen kommen? Sind wir hier, um über die komplizierte Beziehung zwischen scheinbar einfachem Geschichtenerzählen und übermässig komplizierten Forschungspraktiken nachzudenken? Sollte das Geschichtenerzählen nicht ein Teil der wissensgenerierenden Praxis sein? Ein eigentlicher Teil der Wissenschaft – und nicht nur Umsatz und Werbung?
Auf dem Heimweg nach Basel dachte ich daran, mir einen Film anzusehen – einen guten Film mit einer Geschichte, die man mitgestalten und geniessen kann. Aber ich konnte keinen finden. Vielleicht wurden sie auf dem Festival zurückgelassen. Oder vielleicht, nur vielleicht, sollte ich darüber nachdenken, meinen eigenen zu machen.
Dr. Yuliia Mieriemova ist Postdoktorandin in der Forschungsgruppe Gender, Krieg und Sicherheit an der Universität Basel. Sie hat einen MA in Gender- und Frauenstudien und einen Doktortitel in vergleichender Linguistik und hat einen beruflichen Hintergrund im Journalismus. Ihre aktuelle Forschung konzentriert sich auf die Rolle der Frauen im Krieg in der Ukraine, von der politischen Führung bis hin zu den Streitkräften und der Produktion von politischen Subjekten durch die alltägliche Gestaltung des Lebens und den Wechsel zwischen den Identitäten von Krieg und Frieden.
Der Workshop «Storytelling and Storyboarding in Science» wurde vom Graduate Center der Universität Basel organisiert.