Literatur als Schule des Empfindens.
Text: Alfred Bodenheimer
Mein Buch: Während der Corona-Pandemie las Alfred Bodenheimer den Roman «Nemesis», der zur Zeit einer Polio-Epidemie spielt. Er verfolgte dadurch gleich zweimal, wie sich Menschen in einer solchen Ausnahmesituation verhalten.
Zweimal im 20. Jahrhundert, in den Jahren 1916 und 1952, wurden Teile der USA und auch die Stadt Newark in New Jersey von einer Polio-Epidemie heimgesucht. Der Autor Philip Roth (1933 –2018), einer der berühmtesten Söhne dieser Stadt, hat in «Nemesis» (2010) über eine Polio-Welle in und um Newark geschrieben. Er verlegt sie allerdings ins Jahr 1944, während US-Soldaten vorab in Europa und Asien im Kampf stehen.
Etliche Bücher von Roth hatte ich schon gelesen, als ich im ersten Pandemiejahr von einem Mitarbeiter auf «Nemesis» aufmerksam gemacht wurde. War gerade das die richtige Lektüre für den Lockdown? Mich jedenfalls hat dieser Roman, der schlicht und stringent erzählt ist, mit Empathie, aber ohne Pathos, fasziniert.
Roth, der in vielen früheren Romanen beissenden Sarkasmus walten lässt, der zuweilen absurde Szenarien und teilweise überbordende Männerfantasien entwirft, zeichnet in diesem Buch, seinem letzten, mit der Figur des Bucky Cantor nicht nur das Porträt eines Mannes, der durch sein kompromissloses Verantwortungsgefühl und Pflichtbewusstsein zu seinem eigenen grössten Feind wird, sondern schildert auch eine Gesellschaft, die von einer unheimlichen Bedrohung durchgerüttelt wird, gegen die sie, viele Jahre vor der Entdeckung eines Impfstoffs, praktisch wehrlos ist.
Ich habe in diesem Roman mehr über die Psychologie von Menschen in epidemischen Situationen gelernt als aus meinen damaligen Echtzeit-Erfahrungen, war näher an den Opfern, ihren Angehörigen und dem ganzen Umfeld dran als bei Zahlenstatistiken, Berichten oder Schockbildern, die uns die Medien haufenweise aufbereiteten. Literatur als Schule des Empfindens, als Hand, die die verborgensten Saiten in uns anschlägt, und als Stimme, die in uns das elementare Menschsein weckt – was mehr kann man von ihr verlangen?
Die unspektakuläre Hauptfigur ist der junge Turnlehrer Bucky Cantor, der darunter leidet, aufgrund einer Sehschwäche keinen Kriegsdienst leisten zu können, und während der Sommerferien alles dafür tut, als Aufsichtsperson die ihm anvertrauten Jungen, die täglich auf dem Sportplatz seiner Schule zum Spielen zusammenkommen, vor einer Ansteckung mit Kinderlähmung zu schützen. Bis dann eben doch der erste erkrankt.
Alfred Bodenheimer ist Professor für Religionsgeschichte und Literatur des Judentums an der Universität Basel und lebt in Basel und Jerusalem. Seit 2014 hat er sechs Kriminalromane rund um den Zürcher Rabbiner Gabriel Klein veröffentlicht. 2022 ist sein erster Jerusalem-Krimi «Mord in der Strasse des 29. November» erschienen.
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