Im Fokus: Nadine Felber sucht nach Wahrheiten in der Pflege und in sozialen Medien
Eine Dissertation war für Nadine Felber zunächst unvorstellbar. Die Coronapandemie und deren Auswirkungen auf ihr Privatleben stimmten sie jedoch um. Nun befasst sie sich damit, wie akzeptiert neue Technologien in der Alterspflege sind. Und mit der Frage: «Was ist Wahrheit?»
03. August 2022
Nadine Felber sitzt in Sporthosen und kurzem T-Shirt in der Bibliothek des Instituts für Bio- und Medizinethik (IBMB). In der Mittagspause bietet sie für ihre Kolleg*innen Yoga an. «Bewegung ist mir wichtig», sagt die 30-Jährige. «Einerseits dient es mir als Ausgleich zu all der Kopfarbeit im Doktorat. Andererseits gibt es mir ein Gefühl von Disziplin und Kontrolle: Solange ich noch Zeit fürs Training habe, habe ich noch alles im Griff.» Früher habe sie gar nicht sportlich ausgesehen, war sogar übergewichtig und litt darunter. «Jetzt gehört Bewegung quasi zu meiner Identität. Zu dem Selbstbild, das ich von mir haben möchte.»
Ihre «Fitbit» zeichnet als ständige Begleiterin am Handgelenk auf, wie viele Schritte sie geht, wie hoch der Puls ist, und sogar, wie sie schläft. Auch hier spiele ein gewisser Kontrollaspekt mit. Die Daten helfen ihr bei der Planung. Wäre ein Spaziergang am Abend noch eine gute Idee oder sollte sie lieber früher ins Bett? «Aber es macht auch ein bisschen süchtig. Ich schaue schon viel drauf», gesteht sie.
Wenn Felber nicht Sport macht, führt sie viele Gespräche. Für ihre Dissertation untersucht sie die Vor- und Nachteile von Smart Homes in der Pflege. Der Gesundheitsaspekt neuer Technologien beschäftigt sie schon länger: Ihre Masterarbeit in praktischer Philosophie widmete sie der Frage, ob ein*e gut*er Bürger*in ein*e gesunde*r Bürger*in sei und welchen Einfluss Self-tracking-Geräte auf den einzelnen Menschen haben (Originaltitel: Is the good citizen a healthy citizen? – A philosophical assessment of digital self-tracking devices on the individual). Der Befund ist nicht eindeutig. «Es gibt immer ein Sowohl-als-auch. Das ist das Frustrierende an der Philo, aber eben auch das Spannende», sagt Nadine Felber verschmitzt.
Doktorat statt Leben in Madrid
Nach Abschluss der Masterarbeit war die quirlige, im aargauischen Rheinfelden aufgewachsene Felber erst einmal «fertig mit der Uni», wie sie sagt. Sie hatte genug vom Schreiben wissenschaftlicher Arbeiten. Ein Dissertationsprojekt in Angriff zu nehmen, wäre ihr deshalb nicht mal im Traum in den Sinn gekommen.
Vielmehr wollte sie weg, ins Ausland. Es zog sie nach Madrid, wo sie während eines Jahres ein Praktikum in der Schweizer Botschaft absolvierte. Sie lernte einen Mann kennen, wollte in Spanien bleiben und sich einen Job suchen. Doch dann kam Corona und stellte alles auf den Kopf.
Die Pandemie und die in der spanischen Hauptstadt sehr strengen Massnahmen zu deren Eindämmung gestalteten die Stellensuche schwierig. Felber braucht eine Alternative. Sie stiess auf die Ausschreibung einer Doktoratsstelle am IBMB und bewarb sich. «Das Thema meiner Masterarbeit schien mir eine gute Voraussetzung für die Mitarbeit am Projekt des IBMB», sagt sie. Die Arbeitsbedingungen hätten sich zudem gut mit einer Fernbeziehung nach Spanien vereinbaren lassen.
Vom Umgang mit Daten
Die Dissertation ist Teil eines vom Schweizerischen Nationalfonds finanzierten Projekts, das die Bedeutung von Smart-Home-Technologien im Gesundheitssystem und in der Pflege untersucht. So könnten mit Sensoren ausgestattete Wohnungen ältere Menschen unterstützen, etwa einen Alarm auslösen, wenn diese stürzten, oder sie daran erinnern, genügend zu trinken. Dabei interessieren Felber vor allem ethische Gesichtspunkte, etwa ob technologische Überwachung mit Menschenwürde und Autonomie vereinbar ist, oder wie viel Menschlichkeit es in der Pflege braucht – auch im physischen Sinne. Ist beispielsweise ein freundlicher Roboter besser als eine unfreundliche Pflegerin?
Dass das Projekt bereits ein Funding hatte und sie Teil eines Forschungsteams ist und nicht auf sich alleine gestellt wie bei Masterarbeit, kommt der kontaktfreudigen Frau entgegen: «Das gibt mir Struktur und ich habe regelmässigen Austausch mit anderen Menschen.» Sie lernte, Daten zu erheben und zu analysieren. Zu ihren Erkenntnissen veröffentlicht sie insgesamt mindestens drei Papers als Erstautorin, die eine kumulative Dissertation ergeben.
Um zu eruieren, welche Einstellung potenziell Betroffene zu Smart Homes haben, wo sie Chancen und Risiken sehen, befragt Felber drei Interessengruppen: Seniorinnen und Senioren, Mitarbeitende in Pflegeinstitutionen und bei Spitex-Organisationen sowie mit Angehörige älterer Menschen. Insgesamt 60 Interviews wird sie am Ende geführt haben, 20 pro Kategorie. Aktuell ist sie mit der Rekrutierung der dritten Stakeholdergruppe, jener der Angehörigen, beschäftigt. «Es ist jedoch nicht einfach, Leute zu finden, die bereit sind, mit uns über dieses Thema zu sprechen», stellt sie fest.
Felber berichtet auch über schwierige Situationen im direkten Umgang mit den Gesprächspartner*innen. «Gerade ältere Menschen erzählen mir sehr viele persönliche Dinge und ich merke, dass ihnen das guttut. Auf der anderen Seite sollen sie mir ja meine spezifischen Forschungsfragen beantworten.» Die Leute zu unterbrechen und wieder auf den Weg zurückzuholen, bringt die Wissenschaftlerin mitunter in einen Konflikt, wie sie sagt. «Zudem muss ich hinterher abwägen, welche Informationen tatsächlich forschungsrelevant sind und was mir die Leute im Vertrauen erzählt haben. Zudem sind einige Geschichten doch sehr «happig» und gehen mir auch nah.»
Kampf gegen Fake News und Verschwörungstheorien
Die Frage nach der Herkunft von und den Umgang mit Informationen beschäftigt Felber auch abseits von ihrer Forschung. «Welche Informationen wir erhalten und welche Schlüsse wir daraus ziehen, beeinflusst unser Leben massgeblich», weiss sie aus eigner Erfahrung: Ihr Freund in Madrid rutschte immer mehr ab in Verschwörungstheorien rund um Covid-19.
Obwohl er sich gleich zu Beginn der Pandemie mit dem Coronavirus infiziert hatte, glaubte er nicht daran. Für Felber war das schwierig nachzuvollziehen. «Das einzige Mittel, womit ich ihn einigermassen greifen konnte, war die Frage, woher er seine Informationen habe und wie verlässlich die Quelle sei.» Doch die unterschiedlichen Einschätzungen der Pandemie führten schliesslich zur Trennung.
Die Situation machte ihr bewusst, wie wichtig es ist, nachzuvollziehen, woher eine Information kommt und sie bis zu ihrer Quelle zurückverfolgen zu können, um den Wahrheitsgehalt besser einzuschätzen. Gemeinsam mit einem Freund gründete sie deshalb vor eineinhalb Jahren das Projekt Source Engine – The social solution against misinformation. Ziel des Onlinetools ist es, ein Netzwerk von Expert*innen aufzubauen, die Angaben in Medientexten oder auf Social Media mit Quellen ausstatten oder deren Quellen verifizieren können. Dabei ist es ihr ein Anliegen, die Wissenschaft einzubinden und ein Netzwerk des Vertrauens zu schaffen. Ihre Hoffnung: «Die Menschen sollen den Quellen vertrauen und dank Mehrinformationen bessere Schlüsse für sich selbst ziehen können.»
«Am Ende geht alles auf»
Sensibilisiert durch dieses Projekt und die Doktorarbeit fragt sich Felber auch immer wieder selber: Bin ich eine verlässliche Quelle? So hätten sie Bekannte von ihrem Outdoor-Trainingsplatz beispielsweise nach ihrer Einschätzung zur Corona-Impfung gefragt, «weil ich ja beruflich irgendwas mit Gesundheit zu tun habe». Hier zieht sie aber eine klare Grenze, sie sei ja keineswegs Ärztin. Man solle sich nicht hinreissen lassen zu unsicheren Infos. «Sobald man den Mund aufmacht, trägt man Verantwortung für das, was man sagt», betont sie.
Wenn es um sie selber geht, ist Felber jedenfalls sehr auskunftsfreudig und erzählt auch Persönliches unumwunden. Zum Beispiel zum Tod ihres Vaters: «Er hat nach seiner Krebsdiagnose den Freitod gewählt.» Mit dieser Erfahrung im Hintergrund hielt sie mit Medizinstudierenden ein Tutorium zu assistiertem Suizid ab. Ein Highlight für Felber: «Für mich war es sehr spannend, dass ich mich mit anderen über dieses prägende Erlebnis austauschen konnte», sagt sie.
Auch wenn es praktische Überlegungen waren, die Felber letztlich zum Doktorat bewogen haben: «Am Ende geht alles auf. Die Biomedizinethik ist für mich ein riesen Thema und eine Bereicherung.» Ende 2023 will sie ihre Dissertation abschliessen und sich dann voll und ganz auf die Source Engine konzentrieren. Und auch wenn sie keinen finanziellen Druck habe, will sie diesen Termin auch einhalten: «Meine Mutter wird froh sein, wenn ich dann endlich einmal fertig studiert habe», sagt sie mit einem Augenzwinkern.
Im Fokus: die Sommerserie der Universität Basel
Das Format Im Fokus rückt junge Forschende in den Mittelpunkt, die zum internationalen Renommee der Universität beitragen. In den kommenden Wochen stellen wir insgesamt sieben Akademiker*innen aus unterschiedlichen Fachrichtungen vor, die stellvertretend für die über 3000 Doktorierenden und Postdocs der Universität Basel stehen.