«Die psychosoziale Belastung ist nicht zu unterschätzen»
Die Schweiz lockert allmählich die Massnahmen zur Eindämmung des neuen Coronavirus. Der Kampf gegen Covid-19 ist aber noch lange nicht gewonnen. Besonders zu spüren bekommt dies das Gesundheitspersonal. Prof. Dr. Michael Simon, Professor für Pflegewissenschaft an der Universität Basel, spricht im Interview über die Herausforderungen für das Pflegefachpersonal in Spitälern und Pflegeheimen.
29. April 2020
Herr Simon, die Coronavirus-Infektionswelle in der Schweiz ist abgeflacht, aber das Virus wird uns noch lange Zeit begleiten. Was bedeutet das für das Gesundheitswesen?
Die grosse Frage, die sich jetzt stellt ist, wie sich verhindern lässt, dass es zu einer zweiten Welle kommt. Bisher hat sich die Schweiz gut geschlagen. Selbst in den am schwersten betroffenen Kantonen ist man knapp unter der Kapazitätsgrenze der Intensivstationen geblieben. Das kann sich aber auch sehr schnell ändern, falls es zu einer zweiten Infektionswelle kommt. Es bleibt eine grosse Aufgabe, an der alle mithelfen müssen.
Wäre die Schweiz einer zweiten Welle gewachsen?
Die Spitäler haben sich ja schon zu Beginn generalstabsmässig vorbereitet und die Anzahl ihrer Intensivbetten erhöht. Die Herausforderung besteht aber auch darin, entsprechend ausgebildete Pflegeteams aufbieten zu können. Mit dem hohen Anteil an Pflegepersonal aus den Nachbarländern und Grenzgängern ist das nicht einfach, wenn dort über die Zwangsrekrutierung von Personen mit Ausbildung in den Pflegeberufen diskutiert wird.
Haben wir jetzt nicht die Zeit gewonnen, auch zusätzliches Pflegepersonal für die Intensivstationen zu schulen?
Für die Intensivstation braucht es eine Zusatzqualifikation. Das unterschätzen viele. Pflege im Allgemeinen und Intensivpflege im Besonderen bedeutet ja nicht nur Fiebermessen und Rückenwaschen. Dahinter stecken eine lange Ausbildung und jahrelange Berufserfahrung, beispielsweise im Umgang mit Beatmungsgeräten und Patienten mit komplexen Krankheitsbildern und Therapien. Die Schweiz ist darauf angewiesen, Pflegepersonal aus dem Ausland zu rekrutieren. Hierzulande wird bei Weitem nicht genug hochqualifiziertes Pflegefachpersonal ausgebildet.
Könnte sich das mit der Corona-Krise nicht ändern?
Die Wahrnehmung in der Öffentlichkeit für diese Berufe ist sicher gestiegen. Aber die Karriereperspektiven für die Pflegeberufe zu verbessern, Pflegepersonal im Beruf zu halten und künftig ausreichend Pflegefachkräfte in der Schweiz auszubilden, wird Teil der Aufarbeitung nach der Krise sein müssen. Innerhalb weniger Wochen und Monate wird sich dieses Problem fehlender Pflegefachpersonen – auch jenseits der Intensivstationen nicht lösen lassen.
Noch stecken wir mitten in der Krise. Was sind momentan die grössten Herausforderungen für das Gesundheitspersonal?
Die psychosoziale Belastung von ärztlichem Personal und Pflegefachkräften auf den Covid-19-Stationen ist nicht zu unterschätzen. Teilweise isoliert sich Gesundheitspersonal selbst, um ihre Familien vor dem Infektionsrisiko zu schützen. Trotz grösster Vorsichtsmassnahmen lässt sich nicht vollständig verhindern, dass auch Personal auf Covid-19-Stationen infiziert wird. Es gibt auch viele praktische Probleme, wie die Kinderbetreuung, aber auch sehr viel Unsicherheit. Die Fachkräfte befinden sich in einem Marathon und Massnahmen, wie zum Beispiel die Selbstisolation bedeuten eine enorme Belastung. Gemeinsam mit anderen Forschenden haben wir einen Projektantrag gestellt, der sich auch mit psychosozialen Belastungen befassen soll.
Worum geht es dabei genau?
Ein Teil des Projekts befasst sich damit, mit Antikörpertests den Anteil des Gesundheitspersonals festzustellen, der die Infektion bereits durchgemacht hat. Zum anderen werden wir die Teilnehmenden zu ihrer psychosozialen Situation befragen. Wir wollen untersuchen, welchen Belastungen die Mitarbeitenden durch Covid-19 ausgesetzt sind, um sie zu unterstützen und die Belastungen abzufedern.
Wie schätzen Sie die Situation der Pflegefachkräfte ausserhalb der Spitäler ein?
Da bestehen tatsächlich im Moment die grösseren Brennpunkte. Die Spitäler konnten sich gut auf die Infektionswelle vorbereiten, bei Pflegeheimen oder Spitex-Organisationen ist das eine Herausforderung.
Woran liegt das?
Sie haben deutlich weniger Ressourcen zur Verfügung als Spitäler. Persönliche Schutzausrüstung für das dortige Pflegepersonal war lange Mangelware. Selbstständige in Pflegeberufen sind praktisch komplett auf sich allein gestellt. Woher sollten sie Schutzausrüstung erhalten? Die hatte man lange nicht auf dem Schirm.
Hat sich diese Lage inzwischen entspannt?
Zumindest was die Verteilung der Schutzausrüstung angeht, ja. Aber es bleibt eine hoch anspruchsvolle Aufgabe, mit Covid-19 in einem Pflegeheim umzugehen. Sobald dort Fälle auftreten sind die Einrichtungen und Pflegefachleute sehr gefordert.
Können Sie das ausführen?
Der Anteil an diplomierten Pflegefachkräften in Pflegeheimen ist geringer als in Spitälern und es sind verschiedene Berufsgruppen nahe bei den Bewohnerinnen. Nicht alle sind gleich geübt im Umgang mit respiratorischen Infektionskrankheiten. Es braucht viel Information und Schulung, um Ängste und Unsicherheiten abzubauen. Zum anderen gibt es besondere Herausforderungen, wenn es zum Beispiel um Menschen mit Demenz geht, die nicht nachvollziehen können, warum es bestimmte Massnahmen braucht und was mit ihnen geschieht. Das ist etwas ganz Anderes als in einem Setting wie der Intensivstation, wo der Umgang mit infektiösen Patienten Teil der Routine und Schutzmaterial ausreichend vorhanden ist.
Lassen sich Infizierte in Pflegeheimen überhaupt ausreichend von den anderen isolieren?
Grundsätzlich schon, aber es hängt auch stark von den Gegebenheiten der Einrichtungen ab, ob sich die Bereiche trennen und das Pflegeteam auf diese Bereiche aufteilen lässt. Klar ist, dass ein Pflegeheim vom Umfang her und gegeben der vorhandenen Ressourcen viel Aufwand betreiben muss, um den Schutz des Personals und der gesunden Heimbewohner zu gewährleisten. Spitäler haben Covid-19-Stationen räumlich getrennt und teilweise auch das medizinische Personal in mehrere Gruppen aufgeteilt. Gibt es eine Infektion innerhalb eines Pflegeteams, übernimmt ein anderes. So etwas stellt viele Pflegeheime vor eine grosse logistische Aufgabe.
Was können die Pflegeheime in dieser schwierigen Situation tun?
Das wichtigste Instrument bleiben strikte Schutzmassnahmen, damit es gar nicht erst zu Infektionen kommt. Pflegeheime und Spitex-Organisationen haben ihre Abläufe daraufhin abgestimmt und entwickelt. Pflegeheime sind jedoch keine Spitäler, die Menschen leben dort und haben auch dort ihr soziales Umfeld. Besuche durch die Angehörigen sind sehr wichtig für die soziale Integration und deswegen haben die Besuchseinschränkungen – auch wenn diese auf längere Sicht bleiben werden – schwere Auswirkungen auf die Bewohnerinnen und Bewohner. Auch wenn der Bund die Massnahmen zur Eindämmung von Covid-19 schrittweise lockert, was aus wirtschaftlicher Sicht nachvollziehbar ist, bleibt die Gefahr durch das Virus für alle, aber insbesondere für die Risikogruppen hoch.
Weitere Auskünfte
Prof. Dr. Michael Simon, Universität Basel, Departement Public Health, Pflegewissenschaft, Tel. +41 61 207 09 12, E-Mail: m.simon@unibas.ch