«Wir sollten die Lehrpersonen nach ihren Anliegen fragen»
Die Corona-Krise hat in den Schulen zu einem Digitalisierungsschub geführt. Das beschäftigt auch Dr. Robin Schmidt, der sich mit der Integration von digitalen Informations- und Kommunikationstechnologien (ICT) im Klassenzimmer befasst. Er hat untersucht, welche Überzeugungen die nächste Generation Lehrpersonen gegenüber digitalen Tools haben.
02. November 2020
Herr Schmidt, diesen April haben Sie Ihre Dissertation zum Thema Lehren und Lernen in der digitalen Transformation abgeschlossen. Gleichzeitig wurde wegen Corona grossräumig der Fernunterricht eingeführt. Was bedeutet das für Ihre Forschungsergebnisse?
Erste Evaluationen des Fernunterrichts bestätigen einen wichtigen Punkt meiner Forschung: nämlich dass vor allem die Überzeugungen von Lehrpersonen darüber entscheiden, ob und wie ICT im Unterricht eingesetzt werden. Nicht gelingender Fernunterricht ist vermutlich oft auf unpassende Überzeugungen zurückzuführen. Beispielsweise wenn Lehrpersonen versuchen, sich selbst durch digitale Tools zu ersetzen, nach dem Motto: In Teams findet ihr alle PDFs, wir sehen uns in vier Wochen wieder. Oder wenn sie den veränderten Rahmen nicht akzeptieren und den bisherigen Unterricht eins zu eins in das digitale Setting übertragen.
Dann müssten sich also die Überzeugungen der Lehrer und Lehrerinnen ändern?
Nein, es kann nicht darum gehen, Überzeugungen von Lehrpersonen so zu beeinflussen, dass ICT mehr oder anders in Schulen eingesetzt werden. Viele ICT-Ausstattungsprogramme tragen solche kolonialistischen Züge: «Unterentwickelte» Klassenzimmer, die in der «Kreidezeit» stehen geblieben sind, werden durch fortschrittliche Technologien beglückt. Erwartet wird dann eine digitale, «moderne» Schule. Es braucht aber ein tiefer greifendes Umdenken. Dafür sollten wir Lehrpersonen nach ihren Anliegen fragen. Sie sind zentrale Akteure und nicht blosse Ausführende des digitalen Wandels.
Was wollen die Lehrpersonen denn?
Meine Erhebung in der Lehrpersonenbildung in der Nordwestschweiz legt nahe: Sie wollen sich im Lernprozess einbringen. Für sie ist Unterricht ein Ort gemeinsamen Lernens und des sozialen Austauschs. Die «Digitalisierung der Schule» nehmen Lehrpersonen zunächst oft als Gefährdung wahr. Sie befürchten, dass genau die zentralen Dimensionen ihrer Professionalität nicht mehr erwünscht sind und an ICT abgegeben werden. Wenn schon ICT, dann wollen sie damit Aspekte ihrer Professionalität verstärken. An diese Anliegen muss angeknüpft werden.
Mit dem Fernunterricht sind Kommunikationsplattformen wie Zoom und Teams zentrale Bestandteile des Unterrichts geworden. Sieht so die Schule der Zukunft aus?
Nein. Wir befinden uns in einer Notfallsituation und versuchen diese mithilfe von digitalen Tools zu meistern. Wir haben jetzt hauptsächlich gelernt, Unterricht, Hausaufgaben oder Prüfungen digital zu organisieren. ICT sind dabei Organisations- und Unterrichtsmittel. Das ist praktisch, aber kein Massstab für guten Unterricht mit ICT.
Wie sollten denn ICT in den Unterricht integriert werden?
Wir stehen gerade in einem Paradigmenwechsel: von der «Digitalisierung der Schule» zur «Schule in einer digitalen Welt». Wichtiger als der Einsatz von ICT als Unterrichtsmittel wird das Lernen über und an ICT im Fachunterricht. Denn die digitale Transformation betrifft Sport, politische Bildung, Fremdsprachen oder Geografie genauso wie die Naturwissenschaften. Unterrichtet man zum Beispiel politische Bildung, sollte man lernen, wie die sozialen Medien politische Prozesse beeinflussen. Oder statt dass im Deutschunterricht nur mit Texten aus Büchern gearbeitet wird, kann auch an Instagram-Posts gearbeitet werden. Es gilt, mit ICT stufenspezifisch pädagogische und fachliche Ziele zu erreichen.
Wir haben also während dem Fernunterricht gelernt, mit digitalen Tools zu arbeiten. Was hat diese Ausnahmesituation sonst noch gezeigt?
Wir haben etwas über das Lernen selber erfahren. Was ist Lernen, wenn alles Wissen nur einen Klick weit entfernt ist? Für Prüfungen beispielsweise wurden jetzt Hochsicherheitsumgebungen ohne Internetzugriff geschaffen. Das ist wie ein Reflex in eine lange eingefahrene Bahn, die Lernen als Aufnehmen und Wiedergeben von Inhalten versteht. Wichtiger ist doch eher: Was trägt dazu bei, Information zu beurteilen, Fragen zu stellen, sich im Unsicheren bewegen zu können, mit anderen gemeinsam Lösungen zu erarbeiten? Wenn die Wissensbestände ständig verfügbar sind, kann der Fokus auf das Lernen selbst verschoben werden. Das verändert den Unterricht noch tiefgreifender als eine Ausstattung mit ICT.
Sie unterrichten an der Pädagogischen Hochschule der FHNW: Wie haben Sie den Fernunterricht persönlich erlebt?
Als reiche Lernmöglichkeit, auch für meine Forschung. Es wurde mir deutlich, wie gerne ich mit Studierenden im Raum bin. Aber nur weil man im Seminarraum sitzt, ist man ja nicht automatisch präsent. Umgekehrt ist eine hohe geistige Präsenz in digitalen Lernformaten möglich. So stellt sich die Frage nach dem Wert des räumlichen Zusammenseins für das Lernen neu. Diesen besser zu verstehen, auch das könnte Schule nachhaltig verändern.
Dr. Robin Schmidt
Dr. Robin Schmidt ist wissenschaftlicher Mitarbeiter für Philosophie und ihre Didaktik an der Fachhochschule Nordwestschweiz. Daneben ist er als Dozent und Berater an Schulen im Hinblick auf digitale Transformation und Unterrichtsentwicklung tätig. Seine Forschungsschwerpunkte sind die Professionalisierung von Lehrpersonen in der digitalen Transformation, Überzeugungen von Lehrpersonen über ICT, Fachdidaktik und ICT-Professionalisierung.