Psychologie: Kernenergie-Ausstieg kann Sicherheit gefährden
So wie die Abschaltung der Kernkraftwerke in Deutschland geplant ist, kann sie die Sicherheit der Anlagen negativ beeinflussen. Beteiligte könnten zunehmend eigene Interessen in den Vordergrund stellen, je näher der Zeitpunkt der Abschaltung rückt, argumentieren Wissenschaftler der Universität Basel und des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung Berlin in der Fachzeitschrift «Behavioral Science & Policy». Dabei stützen sie sich auf das sogenannte «Endgame»-Verhalten der Spieltheorie.
31. Mai 2018
Nach der Reaktorkatastrophe von Fukushima im März 2011 wurde in Deutschland die Stilllegung von acht Kernkraftwerken mit sofortiger Wirkung beschlossen. Den übrigen neun Anlagen wurden feste Abschaltdaten zugeteilt, wobei die letzten 2022 vom Netz gehen sollen. Auch in der Schweiz wird die Abschaltung von Kernkraftwerken weiterhin diskutiert, nachdem die Atomausstiegsinitiative, welche die Abschaltung der Kernkraftwerke nach höchstens 45 Jahren Betriebszeit verlangte, im November 2016 abgelehnt wurde.
Akteure zunehmend egoistisch?
Die Psychologen untersuchten, ob die drohende und zeitlich näher rückende Abschaltung der operativen Kernkraftwerke zu «Endgame»-Verhalten in der Kerntechnikbranche führt, etwa bei Anlagenmitarbeitern, Managern, Betreibern, Zulieferern und Behörden.
Endgame-Verhalten in der Spieltheorie bedeutet, dass sich die Akteure zunehmend egoistisch verhalten, wenn ein «Spiel» sich dem Ende nähert. Übertragen auf den Kontext der kerntechnischen Industrie kann dies bedeuten, dass für die Beteiligten auf allen Ebenen zunehmend die eigenen Interessen in den Vordergrund rücken. Eine solche Tendenz könnte negative Auswirkungen auf die Sicherheit kerntechnischer Anlagen haben.
Ob es Anzeichen für das in der Spieltheorie bekannte «Endgame»-Verhalten in der Kerntechnikbranche gibt, haben die Wissenschaftler anhand von drei Ansätzen untersucht. Betrachtet wurde erstens das Verhalten der Akteure in der kerntechnischen Industrie, wie es sich in der öffentlichen Darstellung abbildete; zweitens Statistiken zu meldepflichtigen Ereignissen in kerntechnischen Anlagen; drittens das Sicherheitsverhalten von Probanden in experimentellen Untersuchungen.
Drei Ansätze
- In der medialen Berichterstattung zum Atomausstieg in Deutschland kann man Belege dafür finden, dass Vertrauen und kooperatives Verhalten zwischen Betreibern und staatlichen Entscheidungsträgern seit dem Ausstiegsbeschluss zunehmend gefährdet ist. Zudem sind Kompetenz- und Motivationsverluste bei den Mitarbeitern in der kerntechnischen Industrie zu vermuten, hervorgerufen durch den absehbaren Niedergang einer ganzen Branche, die für viele als Arbeitgeber kaum noch attraktiv ist.
- In den fünf Jahren nach dem Ausstiegsbeschluss 2011 fanden die Psychologen entgegen ihrer Hypothese keinen statistischen Anstieg von meldepflichtigen Ereignissen (Unfälle, Störfälle oder sonstige sicherheitsrelevante Ereignisse in kerntechnischen Anlagen). Dies wäre nach dem «Endgame»-Verhalten zu erwarten gewesen. Allerdings war bereits 2001 zwischen den AKW-Betreibern und der damaligen Bundesregierung ein Ausstieg vereinbart worden. Im Fünfjahreszeitraum nach diesem Ausstiegsbeschluss stieg die Anzahl meldepflichtiger Ereignisse um 39 Prozent an.
- In verhaltensbasierten Experimenten nahmen Probanden die Rolle von Managern ein. Sie mussten in mehreren Durchgängen entscheiden, ob sie in die Sicherheit einer Anlage investieren wollten oder nicht. Wenn Investitionen ausblieben, stieg die Wahrscheinlichkeit von Unfällen. Die Ergebnisse zeigen «Endgame»-Verhalten. Zum Ende der Durchgänge wurde weniger in Sicherheit investiert. Nur wenn der konkrete Endzeitpunkt der Durchgänge im Unklaren blieb, trat kein «Endgame»-Verhalten auf.
Der menschliche Faktor
Diese Ergebnisse sind zwar nicht eindeutig, aber es sei wichtig, mögliche verhaltensbasierte Konsequenzen beim Ausstieg aus sicherheitssensitiven Technologien und Industrien zu antizipieren und zu analysieren, so die Autoren. «Bei der konkreten Umsetzung solcher Beschlüsse darf der menschliche Faktor unter keinen Umständen übersehen werden», sagt Erstautor Markus Schöbel. Ein politisch beschlossenes Ausstiegsverfahren könnte sonst bei der Umsetzung neue und nicht vorhergesehene Risiken mit sich bringen.
Originalbeitrag
Markus Schöbel, Ralph Hertwig, Jörg Rieskamp
Phasing out a risky technology: An endgame problem in German nuclear power plants? (PDF)
Behavioral Science & Policy 3 (2), 41-54 (2017)
Weitere Auskünfte
Dr. Markus Schöbel, Universität Basel, Fakultät für Psychologie, Abteilung Economic Psychology, Tel. +41 61 207 05 86, E-Mail: m.schoebel@unibas.ch