Kinder in Ländern mit niedrigen und mittleren Einkommen erhalten zu viele Antibiotika
Kinder in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen bekommen in den ersten fünf Lebensjahren im Durchschnitt 25 Mal Antibiotika verschrieben. Diese exzessive Verschreibung könnten weltweit Antibiotikaresistenzen verstärken und dazu führen, dass Kinder Krankheitserreger selbst schlechter bekämpfen können. Das berichten Forschende des Schweizerischen Tropen- und Public Health-Instituts (Swiss TPH) und der Harvard T.H. Chan School of Public Health in der Fachzeitschrift «The Lancet Infectious Diseases».
14. Dezember 2019
«Wir wussten, dass Kinder in Ländern mit niedrigem und mittlerem Einkommen häufiger erkranken und dass in diesen Ländern oft Antibiotika verschrieben werden. Wir wussten jedoch bisher nicht, wie die tatsächliche Antibiotikaeinnahme aussieht. Die Ergebnisse sind besorgniserregend», so Günther Fink, Professor für Epidemiologie und Haushaltsökonomie an der Universität Basel und Hauptautor der Studie.
Globale Gesundheitsgefahr
Die antimikrobielle Resistenz ist heute laut der Weltgesundheitsorganisation (WHO) eine der grössten Bedrohungen für die globale Gesundheit und Entwicklung. Einer der Faktoren, der zu dieser globalen Gesundheitsgefahr beiträgt, ist die exzessive Nutzung von Antibiotika weltweit.
Bereits aus früheren Studien geht hervor, dass in vielen Ländern Kindern zu oft Antibiotika verschrieben werden. So kamen mehrere Studien zu dem Ergebnis, dass zum Beispiel in Tansania über 90% der Kinder, die eine Gesundheitseinrichtung aufsuchen, ein Antibiotikum erhalten, obwohl die Behandlung nur in 20% der Fälle notwendig war.
«Frappierende» Zahl
Das Forscherteam wertete für den Zeitraum 2007–2017 die Daten aus Gesundheitseinrichtungen und Haushaltsbefragungen in acht Ländern aus: Haiti, Kenia, Malawi, Namibia, Nepal, Senegal, Tansania und Uganda. Laut der Studie wurden Kindern bis zum Alter von fünf Jahren im Schnitt fünf Antibiotika pro Jahr verschrieben – eine, wie die Autoren festhielten, «frappierende» Zahl, denn in vielen Hocheinkommensländern gelten bereits zwei Antibiotikaverschreibungen pro Jahr als exzessiv. Es zeigte sich, dass Kindern mit Atemwegserkrankungen in 81% der Fälle Antibiotika verabreicht wurden, bei Kindern mit Durchfall waren es 50%, bei Kindern mit Malaria 28%.
Je nach Land wurden Kleinkindern unterschiedlich oft Antibiotika verschrieben. In Senegal erhielten Kinder in den ersten fünf Lebensjahren ungefähr einmal pro Jahr ein Antibiotikum, während diese Zahl in Uganda bei bis zu zwölf Mal pro Jahr lag. Zum Vergleich: In Europa wird Kindern unter fünf Jahren im Schnitt weniger als einmal pro Jahr ein Antibiotikum verschrieben. «Selbst diese Zahl ist immer noch hoch, wenn man bedenkt, dass es sich bei der grossen Mehrheit der Infektionen in dieser Altersgruppe um Virusinfektionen handelt», erklärt Mitautorin Dr. Valérie D’Acremont vom Swiss TPH.
Auswirkungen auf die Kinder
«Die übermässige Verschreibung von Antibiotika stellt nicht nur eine grosse Bedrohung für die globale Gesundheit dar, sondern kann auch konkrete Auswirkungen auf die Gesundheit der betroffenen Kinder haben», erläutert D’Acremont. «Werden Antibiotika zu häufig verwendet, so zerstört das die natürliche Darmflora, welche bei der Bekämpfung von Krankheitserregern und dem Aufbau der Immunabwehr eine zentrale Rolle spielen.»
Ein Forschungsprojekt soll nun aufklären, welche Folgen die übermässige Verabreichung von Antibiotika für Kinder hat. «Erkenntnisse zu den konkreten Auswirkungen auf einzelne Kinder sind entscheidend, um politische Änderungen herbeiführen zu können», sagt Fink. Sein Team vergleicht die Antibiotikapolitik verschiedener Länder, um herauszufinden, wie die Verschreibung von Antibiotika am besten gesenkt werden kann.
Bekämpfung von Resistenzen mit digitalen Mitteln
Die entscheidende Rolle spielen jedoch diejenigen, die im Gesundheitswesen arbeiten. «Ausbildung und Supervision reduzieren die unnötige Verschreibung von Antibiotika am stärksten», so Valérie D’Acremont. Zu diesem Zweck hat ihr Forschungsteam am Swiss TPH und Unisanté in Lausanne das «Electronic Point-of-Care Tool» (ePOCT) entwickelt. Dabei handelt es sich um ein digitales Tool, das Gesundheitsfachkräfte bei der Diagnose und Behandlung erkrankter Kinder unterstützt.
In Gesundheitszentren, in denen ePOCT eingeführt wurde, kam es zu besseren Behandlungsergebnissen, und gleichzeitig konnte die Verschreibung von Antibiotika enorm reduziert werden. Das Tool wird derzeit in Tansania und Ruanda weiterentwickelt und soll in Zukunft auch Algorithmen beinhalten, die auf künstlicher Intelligenz basieren.
Originalbeitrag
Günther Fink, Valérie D’Acremont, Hannah H Leslie, Jessica Cohen
Antibiotic exposure among children younger than 5 years in low-income and middle-income countries: a cross-sectional study of nationally representative facility-based and household-based surveys
The Lancet Infectious Diseases (2019), doi: 10.1016/S1473-3099(19)30572-9