Lockvögel beeinflussen unsere Entscheide
Wenn Menschen die Wahl zwischen zwei Produkten haben, kann eine dritte Option ihre Entscheidung beeinflussen, weil sie den Fokus verschiebt. Ob ein Objekt in der Gunst steigt oder fällt, hängt allerdings davon ab, nach welchen visuellen Merkmalen es beurteilt wird. Das zeigen Forschende der Universität Basel.
07. Dezember 2022 | Noëmi Kern, Christoph Dieffenbacher
Dass uns bestimmte Angebote beim Einkaufen verwirren, kennen wir nur allzu gut. Sogenannte Lockvogelprodukte können unsere Kaufentscheide beeinflussen. Das Phänomen ist in Psychologie, Ökonomie und Verhaltensforschung als Anziehungseffekt (attraction effect) bekannt. Dieser tritt dann auf, wenn bei zwei Wahlmöglichkeiten eine dritte, deutlich schlechtere hinzukommt. Sie hat zwar kaum Chancen, bringt uns aber dazu, uns für eines der beiden ursprünglichen Angebote zu entscheiden, indem der Lockvogel eine zusätzliche Referenz ist. Grund dafür ist, dass wir einander ähnliche Dinge in eine Kategorie gruppieren. Das vereinfacht es, sie miteinander zu vergleichen. Das attraktivste Angebot der Kategorie macht das Rennen, auf Kosten jener Optionen, die nicht in die Kategorie passen.
So zumindest verhält es sich bei Objekten, die sich in der Menge oder Grösse unterscheiden. Bisherige Untersuchungen zum Anziehungseffekt fokussierten auf solche numerischen Merkmale. «Unter diesen kontrollierten laborähnlichen Bedingungen war der Effekt sehr stabil», sagt C. Miguel Brendl, Professor für Marketing an der Universität Basel. Auf visuelle Kriterien war der Anziehungseffekt bisher nicht übertragbar. «Aus Tests weiss man, dass der Anziehungseffekt auch bei Tieren vorkommt, obwohl diese weder Zahlen noch Wörter kennen; sie entscheiden also rein aufgrund von Kriterien anderer Sinne, zum Beispiel von visueller Wahrnehmung. Wir wollten wissen, wie sich das beim Menschen verhält», so Brendl weiter. Die spannende Frage sei letztlich, wie Entscheidungsprozesse ablaufen.
Brendl und sein Team an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Basel untersuchten in verschiedenen Experimenten, wie Menschen aufgrund visueller Attribute zwischen verschiedenen Produkten wählen, die sie auf Abbildungen sehen. Es zeigte sich, dass es einen Unterschied macht, ob die Kriterien quantitativer oder qualitativer Art sind. Über die Ergebnisse berichten die Forschenden im Fachmagazin «Psychological Science».
Anziehung wird zu Abstossung
In einer Online-Umfrage sollten rund 1500 Personen zwischen einer grossen, teuren und einer kleinen, preiswerteren Flasche Olivenöl wählen, die beide bis zum Rand gefüllt waren. Dann wurde die Auswahl durch eine zusätzliche Flasche erweitert. Einmal entsprach dieser Lockvogel der grösseren Flasche, das andere Mal der kleineren und enthielt aber jeweils weniger Öl als das gleich grosse Pendant. In beiden Experimenten erhöhte sich der Wahlanteil zugunsten der gleich grossen, aber besser gefüllten Flasche deutlich. Wie die verschiedenen Ölflaschen räumlich angeordnet waren, beeinflusste die Wahl nicht.
In einem anderen Experiment hatten 1500 Teilnehmende zwischen zwei Schals zu wählen, die sich optisch – in Stoffmuster und Farbe – unterschieden. Hier erhöhte der Lockvogel allerdings nicht die Chancen des ihm ähnelnden Produkts, sondern im Gegenteil: Wenn ein drittes Halstuch hinzukam, das einem der ersten beiden glich, fiel der Anziehungseffekt (attraction effect) nicht nur weg, er verwandelte sich sogar in einen Abstossungseffekt (repulsion effect). Der dem Lockvogel ähnliche Schal hatte nun deutlich schlechtere Wahlchancen.
Während beim Olivenöl der Lockvogel den empfundenen Wert des ihm ähnlichen Produkts steigerte, büsste das lockvogelähnliche Halstuch also an Attraktivität ein. Ein überraschendes Resultat für die Forschenden. «Wir hatten erwartet, dass der Anziehungseffekt verschwindet, aber nicht, dass er sich sogar umkehrt», sagt Brendl. Er hält es für möglich, dass die Versuchspersonen die beiden sich gleichenden Produkte als einander noch ähnlicher empfanden und dadurch das dem Lockvogel ähnliche Produkt etwas negativer wahrnahmen. Der aus früheren Untersuchungen bekannte Anziehungseffekt bei numerischen Attributen ist also nur für quantitative visuelle Merkmale replizierbar, jedoch nicht für qualitative.
Entscheidungen sind nicht rein rational
Diesen Widerspruch führen die Forschenden auf die unterschiedliche Wahrnehmung zwischen quantitativen und qualitativen Aspekten zurück: Quantitative Merkmale der Produkte – wie Volumen und Preis von Olivenöl – erlauben einen Vergleich auf einer einzigen inneren Grössenskala. Diese innere Grössenskala erleichtert es, Unterschiede zu erkennen. Wenn die Versuchspersonen dagegen Ware mit unterschiedlichen qualitativen Merkmalen – wie Schals in verschiedenen Farben – zu vergleichen hatten, fehlte eine solche innere Skala.
Warum ein Lockvogel so unterschiedliche Auswirkungen haben kann, ist noch nicht geklärt. Auch lassen sich die Erkenntnisse nur bedingt auf die reale Welt übertragen, da die Befragungen online durchgeführt wurden und nicht im Feld. Die Teilnehmenden bekamen nicht echte Produkte zu sehen, sondern mussten aufgrund von Abbildungen wählen. Zudem waren die Objekte bewusst vereinfacht und hatten nur zwei Attribute, welche die Entscheidung beeinflussen konnten. Alltagsobjekte sind sehr viel komplexer. Dort kommen zu quantitativen visuellen Attributen meist qualitative Aspekte hinzu. Olivenölflaschen haben nicht nur ein bestimmtes Fassungsvermögen, sondern auch unterschiedliche Formen, Marken oder Etiketten. Auch das beeinflusst Menschen bei der Wahl. «Unsere Resultate unterstreichen, wie formbar und kontextabhängig viele unserer Entscheide sind», kommentiert C. Miguel Brendl. «Unsere Entscheidungen sind nicht rein rational.»
Originalpublikation
C. Miguel Brendl, Özgün Atasoy, Coralie Samson
Preferential Attraction Effects With Visual Stimuli: The Role of Quantitative Versus Qualitative Visual Attributes
Psychological Science (2022), doi: 10.1177/09567976221134476