Lust am Sehen, weniger am Zeigen: Das Basler Bürgertum und die Fotografie
Das Aufkommen der Porträtfotografie im 19. Jahrhundert weckte beim Basler Bürgertum den Reiz am Visuellen und ermöglichte neue Formen der Selbstdarstellung. Wie die neue Technik die Wahrnehmung des Einzelnen beeinflusste, untersucht die Medienwissenschaftlerin Esther Stutz exemplarisch am Archiv der Fotografendynastie Höflinger.
12. März 2018
Schlicht und zurückhaltend – nicht unbedingt Eigenschaften, welche man mit den reichen Gesellschaftsschichten des 19. Jahrhunderts in Verbindung bringt. Für Basel ist diese Beschreibung im Vergleich zu Paris und Städten im Deutschen Reich allerdings sehr zutreffend. «Das Basler Bürgertum hat nach aussen seinen Luxus nicht präsentiert, sondern gab sich eher zurückhaltend», erklärt Esther Stutz, die in ihrer Dissertation das Verhältnis von Bürgertum, Fotografie und Wahrnehmung untersucht. «Man zeigte das Geld nicht.»
Das konnte die Doktorandin an den Carte de Visite beobachten – etwa jasskartengrosse Porträtfotos, welche die wohlhabenden Baslerinnen und Basler ab 1860 massenhaft von sich anfertigen liessen. «Sie stellen sich sehr gemässigt dar – keine prunkvollen Kleider, sondern so, wie sie sich auch auf der Strasse gezeigt haben», erklärt Stutz.
Statt auf der Strasse zeigten die Basler ihren Reichtum lieber erst in den eigenen vier Wänden: «Die Alben, in welchen sie ihre Fotos aufbewahrten, waren sehr aufwendig gefertigt – aus edlen Materialien mit Goldverschlüssen und Schnitzereien im Leder. Daran sieht man dann wieder, dass doch viel Geld vorhanden war.»
Frühes Interesse an der Fotografie
Dieses Geld investierte das Basler Bürgertum gerne in den fotografischen Fortschritt. So erstaunt es nicht, dass Basel eine Vorreiterrolle bei der Entwicklung des neuen Mediums einnahm. Das Interesse an der Fotografie und ihrer technischer Entwicklung war von Anfang an gross. Allen voran bei der Familie Sarasin: sie war im Besitz sowohl einer Camera Obscura als auch einer Laterna Magica. Beide wurden gerne und mit Stolz geladenen Gästen präsentiert.
Esther Stutz‘ Hauptquelle ist das Archiv der Fotografendynastie Höflinger, das sich heute im Staatsarchiv Basel-Stadt befindet. Um ihre Leitfragen zu beantworten, fokussiert sich Stutz in ihrer Arbeit auf die Porträtfotografien zwischen 1860 und 1900. Trotz ausgezeichneter Quellenlage ist darüber bisher kaum geforscht worden.
Bedürfnis nach visuellen Reizen
Den Reiz am Visuellen hatten die Basler bereits vor der Fotografie entdeckt. Zwischen 1808 und 1814 malte der Künstler Marquard Wocher das weltweit älteste noch erhaltene Grosspanorama. Das 38 Meter lange Rundbild der Stadt Thun und ihrer Umgebung wurde in einer eigens dafür gebauten Rotunde an der Basler Sternengasse ausgestellt und konnte für einen kleinen Betrag besichtigt werden.
Esther Stutz sieht einen Zusammenhang zwischen dem frühen Erfolg der Fotografie in Basel und dem Panorama: «Das man einen Blick auf Thun und die umliegenden Berge hatte, ohne dorthin reisen zu müssen, das war etwas Besonderes.» Die Basler, die seit der Reformation in einer bilderlosen Stadt gelebt hatten, bekamen Lust auf mehr, die Nachfrage nach Visuellem stieg. Stutz bezeichnet daher die Carte de Visite auch als bürgerliches Medium – im Gegensatz zur Porträtmalerei der Adeligen.
So lassen sich im Bildaufbau viele Parallelen ziehen. Dennoch unterscheiden sich die beiden Medien deutlich: Porträts liess man in seinem Leben – wenn überhaupt – zwei bis drei von sich malen. Fotografien konnte man nun plötzlich massenhaft von sich machen lassen und damit auch Alben gestalten – der Anfang der Bilderflut.
Die Anfänge der Höflinger Dynastie
Der aus dem Schwarzwald stammende Jakob Höflinger (1819–1892) bemalte Schilder und Uhrenziffernblätter, bevor er eine Karriere als Fotograf begann. Nach einer kurzen fotografischen Ausbildung begab er sich auf eine grosse Wanderschaft in die osteuropäischen Länder, um sein Können weiterzuentwickeln. Als er schliesslich in seine Heimat zurückkehrte, plante er, sich in Freiburg niederlassen. Wegen Basels reichem Bürgertum und dessen Interesse an der Fotografie wurde ihm jedoch empfohlen, sein Studio auf der andern Seite der Grenze zu eröffnen. 1857 siedelte er schliesslich nach Basel über.
Rund 20 Fotoateliers gab es zu der Zeit in der Stadt. Die meisten waren Familienbetriebe, so auch bei den Höflingers. Während Jakob Höflinger fotografierte, arbeitete seine Frau als Rezeptionistin und als Retuscheurin. 1892, nach dem Tod Jakobs, übernahm Sohn Albert Höflinger (1855–1936) das Geschäft. Zwei weitere Generationen folgten, bis das Archiv schliesslich 1991 dem Staatsarchiv Basel-Stadt zum Kauf angeboten wurde. Mit rund 65‘000 Negativen aus der Zeit zwischen 1857 und den 1970er-Jahren ist es einer der umfangreichsten zusammenhängenden Fotobestände der Schweiz.