Pathologie intensiv!
Viele Medizinstudierende machen einen grossen Bogen um die Pathologie. Auch weil gemunkelt wird, dass der eine oder andere Pathologe ein wenig eigenwillig und merkwürdig ist. Wie soll man schliesslich auch sonst sein, wenn man tote Menschen aufschneidet? Ob dieser Befund zutrifft, habe ich in meinem «Pathologie-intensiv»-Praktikum herausgefunden.
Im Fachgebiet Pathologie wird eine Krankheit von der Entstehungsweise und dem Verlauf bis hin zu deren Auswirkungen auf den ganzen Körper erforscht. Dazu wird entnommenes Gewebe makroskopisch (ganze Organe, Organsysteme) sowie mikroskopisch unter die Lupe genommen und mit vielen verschiedenen biochemischen Färbungen markiert, um Unsichtbares sichtbar zu machen.
Die Elastica-van Gieson-Färbung zum Beispiel markiert Kollagen rot, elastische Fasern schwarz und Muskelzellen sowie Zytoplasma gelb. Das sieht dann unter dem Mikroskop aus wie ein kleines Feuerwerk und bringt ein wenig Struktur in die vielen Zellen, die man sich anschaut.
Pathologinnen und Pathologen sind Alleskönner: Sie besitzen beispielsweise die Möglichkeit, spezifische Proteine an Zelloberflächen anzufärben, die dann Informationen über das Ansprechen von Tumoren auf die vorgesehene Therapie liefern. Genetische Abweichungen, wie die Trisomie 21, diagnostizieren Patholog*innen mit Hilfe der Molekularbiologie und auch die Obduktion sowie vieles mehr gehört zu ihrem Aufgabenbereich. Nicht umsonst ist das Standwerk zur Einführung in die Pathologie ein 1064 Seiten schwerer Schinken. Da gibt es also viel zu wissen – und zu tun:
Montagmorgen in der Pathologie
Um halb neun haben wir eine kurze Weiterbildung. Knapp 15 Personen blicken in ein grosses, ineinander verbundenes Mikroskopie-Röhrensystem hinein und versuchen anhand von ein paar wenigen Zellen eine Diagnose zu stellen. «Dr. X, wie würden Sie diesen Tumor nun einteilen?» «Was müssen Sie in diesem Fall noch besonders beachten?» «Hat sonst noch jemand eine Idee?» In meinem Kopf formt sich nicht einmal der Ansatz einer Idee. Verkrampft versuche ich die anscheinend vorhandenen malignen Veränderungen im Präparat zu erkennen. Vielleicht da, nein da! Es fühlt sich an wie ‘Finde den Fehler’ im Grossformat. Und wenn sie nicht gestorben sind, suchen sie noch heute.
Das Labor
Nach einer halben Stunde bekommen meine Kollegin und ich erst einmal eine Führung durch das ganze Labor. Uns wird erklärt, wie Organe zuerst makroskopisch beurteilt und die interessanten Teile dann für die Mikroskopie angeschnitten werden. Laborant*innen fixieren und kühlen dieses Gewebe, legen es zurecht, schneiden es wieder und färben es. Schlussendlich landet das Gewebe wieder unter den Adleraugen der Patholog*innen.
Die Assistenzärzt*innen, mit welchen wir am meisten zu tun haben, sind wirklich nette Leute. Sie trinken viel Kaffee. Ausserdem backt irgendjemand jeden Abend einen Kuchen für alle. Dazu scheinen die Assistenzärzt*innen, neben dem Backen noch Zeit zu haben, um Sport zu machen und sich mit Forschungsideen zu beschäftigen. Bisher ist die Pathologie gar nicht so skurril und trocken wie gedacht…
Versuch Nr. 2
Dann sind die Praktikant*innen dran! Wir bekommen richtige Fälle, die wir dann mit den Oberärzt*innen besprechen sollen. Richtige Fälle bedeutet: Kliniker*innen schicken Biopsien (entnommenes Gewebe) in die Pathologie. Oftmals gibt es bereits eine Verdachtsdiagnose, die wir dann bestätigen oder entkräften sollen. Falls die behandelnden Ärztinnen und Ärzte mit den klinischen Untersuchungen nicht weiterkommen, kann auch aber einmal ein kleiner Hilfeschrei mitgeschickt werden: «Was könnte das sein?(!)».
Beispielsweise kann da stehen:
- Diagnose: Magengeschwür
- Frage nach: Helicobacter pylori?
Wir Praktikant*innen bekommen natürlich keine schwierigen Fälle. Eher solche, welche die Patholg*innen mit schlaftrunkenen, koffeinfreien Augen und 5 Meter Entfernung diagnostizieren. Jeder fängt einmal klein an!
Voller Elan blicke ich durch die Sammellinsen des Mikroskops und hoffe, dass das Gewebe angeschrieben ist mit «Hier ist kein Helicobacter pylori zu finden». Tut es natürlich nicht, also schaue ich mir die Zellen ganz genau an.
Ja, ich befinde mich im Magen, das ist richtig. Da ist keine Blutung oder unübersichtliche Vermehrung der Magenzellen zu finden, auch richtig. Aber sehen die Zellen normal aus? Hm, vielleicht? Ich schaue mir denselben Schnitt noch in einer anderen Färbung an, der Giemsa-Färbung. Diese wird speziell dafür genutzt, um Bakterien, beispielsweise den Helicobacter pylori, knallig blau anzufärben. Ich suche das Präparat nochmals penibel genau ab, kann aber auch fünf Minuten später keine Bakterien finden.
«Konnten sie etwas erkennen? Nein? Schauen wir uns das Präparat gemeinsam an», meint der Oberarzt, spannt den Schnitt im Mikroskop ein und durchsucht in einem Höllentempo die Zellen. Hin und her, hoch und runter. Zack, Schnittwechsel, schon wird das Giemsa-Präparat beurteilt. «Kein Helicobacter, muss wahrscheinlich ein von Medikamenten verursachtes oder stressbedingtes Magengeschwür sein. Punkt», diktiert der Oberarzt nach gefühlten 5 Sekunden Mikroskopierzeit seinem Computer: «Fall abschliessen.» Mir schwirrt noch der Kopf von der Hetzjagd der Zellen. Der Oberarzt schlägt schon die nächste Mappe auf: «Haben sie schon einmal einen Polypen gesehen?»
Die Obduktion
24 Wochen alt, ein vollständiges, etwas kleines ‘Baby’ liegt da auf dem Tisch. Nebenan liegen Skalpelle, Pinzetten und Pipetten statt Plüschtiere. Filigrane, feine Finger mit winzigen, kaum erkennbaren Fingernägeln. Braune Haare krönen den Kopf der kleinen Kreatur. Der Kopf ist etwas aufgedunsen und vergrössert: Ein Wasserkopf; der Grund für den Abort.
Ich hatte mich auf die Obduktion gefreut, da man sehr viel lernen kann. Aber nicht so, nicht bei einem Fötus. Mir steigen Tränen in die Augen und nur mit grosser Mühe kann ich sie zurückhalten, als der Pathologe die Kopfhaut vom Schädel löst.
«Wir müssen noch ein Auge sowie einen Oberschenkelknochen entfernen und am Ende entnehmen wir dann das ganze Organpacket», stellt der Pathologe nüchtern fest: «Alles klar?» Reiss dich zusammen, denke ich. Ein quiekendes Kratzgeräusch von mir dient ihm als Antwort. Er macht weiter. «Ich verstehe nicht, wieso man das Auge entfernen muss, das ist einfach nur mühsam. Dafür brauche ich dann 15 Minuten länger. Mist.» Genervt schneidet er weiter. Gekonnte Schnitte, er hat das schon oft gemacht. Ich muss leer schlucken, mir ist ganz kalt. Ja, denke ich, wieso auch noch das Auge?
Nach einer Stunde ist die erste Obduktion vorbei. Es liegen noch zwei weitere Föten auf dem Tisch, Zwillinge. Wartend. Zeit spielt keine Rolle mehr. Während der Fötus der ersten Obduktion zugenäht wird, widmet sich der Pathologe bereits den nächsten beiden. Ein makabres Bild. Obduktion am Laufband. «Ich brauche frische Luft», erkläre ich mich. Der Pathologe schaut mich wissend, vielleicht sich selbst erkennend an: «Natürlich.» Ich eile aus dem Raum, streife mir Handschuhe, Kittel und Überschuhe ab. Desinfiziere meine Hände. Einmal, zweimal. Verlasse den Keller, verlasse die Pathologie. Ich muss raus in die Sonne, ich brauche Luft. Ich muss atmen.
Fazit
Pathologie ist ein spannendes Fach. Man muss sich jedoch zuerst daran gewöhnen. Es ist für die Pathologie lebensnotwendig, sich eine dicke Haut zuzulegen. Dann muss man bestimmt auch nicht mehr stundenlang Wasserkopftherapien googlen, um besser schlafen zu können.
Und natürlich ist es die Pathologie ein sehr wichtiges Fach! Die Eltern der Föten möchten gerne wissen, wie gross das Risiko ist, nochmals ein krankes Kind zu bekommen. Sie möchten wissen, ob der Schwangerschaftsabbruch die richtige Entscheidung war.
Das Fach Pathologie kann aber auch begeistern mit ihren tollen Schnitten, den Techniken und Färbungen, dem Suchen und Erkennen von Problemen von erkranktem Gewebe. Trotzdem: Manchmal wäre es einfach schöner, keinen Fehler zu finden.
Dieser Artikel erschien 2018 auf dem Beast-Blog der Universität Basel. Er wurde für Campus Stories aktualisiert. Josefin schrieb bis 2021 für den Beast-Blog.