«Wo tuets weh?» – Wenn man zum ersten Mal auf echte Patient*innen trifft
Der Arzt-Patienten Unterricht ist der erste Moment im Medizinstudium, wo man nicht an gesunden Mitstudierenden das Herz abhört und die Milz ertastet, sondern an einem richtigen Patienten. Das ist der erste Moment, wo man einem leidenden Menschen gegenübersteht und versucht, das Rätsel der Krankheit zu lösen.Wie man sich in so einer Situation fühlt und was alles geschehen kann, liest du hier.
Der Arzt-Patienten Unterricht ist so aufgebaut, dass man in Kleingruppen in verschiedene Spitäler rund um Basel geschickt wird, wo dann ein*e «Patient*in» auf dich wartet. «Patient*in» in Anführungs- und Schlusszeichen, da der Patient oder die Patientin sich schon seit einigen Tagen im Spital befindet, eine Diagnose bereits gestellt und eine hoffentlich kurative Therapie eingeleitet wurde. Wir können in diesem Sinn also nichts falsch machen. Alle wissen, wo das Problem liegt, nur wir Studierende nicht.
In Kleingruppen betritt man ein Patient*innenzimmer und hat keinen blassen Schimmer, mit was und wem man konfrontiert werden wird. Erst erhebt man dann eine Anamnese und anschliessend folgt eine möglichst zielorienterte klinische Untersuchung. Wenn man sich ein Bild von der Lage machen konnte und einige Differentialdiagnosen parat hat, ruft man den zugeteilten Arzt oder die zugeteilte Ärtztin an.
Man führt mit den zuständigen Ärzt*innen einen Rapport durch und erzählt, was man erfahren hat und wie die Verdachtsdiagnose lauten könnte. Fragen werden geklärt und klinische Untersuchungen wiederholt, falls die Ausführung nicht ganz korrekt war oder keine Befunde generiert werden konnten. Das hört sich alles ziemlich logisch und strukutiert an. Doch stell dir vor, dass dich jemand voller Erwartungen anschaut und auf deine erste Frage wartet. Wie würdest du denn starten? Mit «Hallo! Wie goht’s?» oder «Wo tuets weh?», ein wenig lächeln, vielleicht zwinkern. Und dann?
Meine erste Patientin
«Ich hoffe Ihr habt alle einen weissen Kittel dabei?» Upps. Vergessen. Schon der erste Fauxpas. Wir fahren mit dem Lift hoch, angespanntes Schweigen, verkrampftes Lächeln. Die eine Gruppe steigt aus und wir verabschieden uns mit «Viel Glück». Es geht weiter hoch und bald darauf stehen wir vor einer weissen Tür. Alles ist weiss, die Betten, die Türen, die Kittel, die lächelnden Zähne, die Blätter, die uns in die Hand gedrückt werden. Die bleiche Tür geht auf und mitten im Raum befindet sich ein farbloses Bett mit einem Flecken Rosa. Ein Gesicht, es lächelt.
Mein Kollege und ich gehen auf die Frau zu und reichen ihr die Hand, erzählen kurz, woher wir kommen, wo wir studieren und was unser Auftrag ist. «Wir machen das heute zum ersten Mal, also bitten wir Sie um ein wenig Geduld. Wir werden uns aber Mühe geben. [Pause] Dann fangen wir jetzt mir der Anamnese an…», äussere ich möglichst selbstsicher, lächle dabei und dann steht plötzlich die weisse Wand vor mir. Mein Gehirn schuftet, rotiert – schafft es nicht eine Frage zu formulieren. Wie soll ich jetzt anfangen? Wie findet man heraus, was ihr fehlt?
Mein Freund hört das Rattern meines Gehirns, rettet mich und fragt stattdessen, weshalb sie denn ins Spital gekommen sei. Da fängt sie an zu erzählen: Husten, Fieber, Schwindel. Aufgrund dieser Aussagen erkundigen wir uns dann bei der Patientin nach ihrem Husten: «War der Auswurf blutig? Wie lange plagt Sie der Husten schon?»
Zwischen der Frage, ob die Patientin denn schon etwas Ähnliches gehabt habe, mischten wir noch die Frage nach dem Sterbensgrund ihrer Mutter und wie es denn mit ihrer Verdauung aussieht. Völlig konzeptlos löchern wir sie zu allen möglichen medizinisch relevanten Fakten, die uns durch den Kopf geistern. Wir sind so motiviert, alles so gut wie möglich zu machen und nichts zu verpassen, dass unsere Anamnese schlussendlich in einem kleinen Chaos endet. Die gelassene Dame lässt uns aber grosszügig gewähren und antwortet geduldig auf jede Frage, wie selbsterklärend und rhetorisch sie auch sein mag.
An der Oberfläche kratzen
«Wie ist ihre familiäre Situation?», frage ich nach einer Weile. Inzwischen fühlt sich das weisse Zimmer nicht mehr so kalt und keimfrei an. Es fängt an richtig Spass zu machen! Auf jede Frage hin bekommt man ein neues Puzzleteilchen: «Haben sie Husten?» – «Ja», erstes Puzzleteilchen. «Hatten Sie schon einmal einen ähnlichen Husten?» – «Nein, nicht so stark. Es kratzt richtig», zweites Puzzleteilchen, und so weiter. Unsere Aufgabe besteht darin. alle Teilchen zu finden und sie dann richtig zusammenzusetzen.
Wobei Gewalt auch hier keine Lösung ist! Doch die Realität ist manchmal etwas komplizierter. Denn ab und an kommt es vor, dass Patient*innen auf die Frage nach früheren Spitalaufenthalten antworten, dass sie schon immer kerngesund waren und dabei völlig verdrängen, dass sie vor dreissig Jahren eine Nierentransplantation hatten. Herzinfarkte, Hirnschläge, alles wird vergessen. Manchmal weckt man auch unangenehme Erinnerungen. Als ich nach ihren Kindern frage, kämpft die arme Frau mit ihren Tränen. «Mein Sohn hat vor drei Monaten Selbstmord begangen.» Weisse Wände, weisse Kittel, heisse Tränen.
Und nun? Ich hatte nie Kinder. Wie soll ich verstehen, was sie fühlt? Ein Seelsorger hat mir einmal gesagt, dass Trauer keine schönen und vor allem nicht viele Worte braucht. Man muss nur da sein und das Leid des Gegenübers aushalten. Aushalten. Aushalten. Aushalten. Ich hielt auf jeden Fall ihre Hand, schaute in den rosa Fleck. Mein Beileid.
Hand anlegen
Nach der Anamnese folgt die klinische Untersuchung: Inspektion, Perkussion, Palpation, Auskultation. Man kann zwar in Büchern über die korrekte Ausführung lesen, muss dann bei der Untersuchung auch den Mut aufbringen, die Patient*innen richtig anzufassen, nicht nur zu streicheln. Wenn man das wirklich tut, kann nicht viel schief gehen. Das Tolle an der klinischen Untersuchung ist, dass es unabhängig von einer möglichen Nierentransplantation vor 30 Jahren ein Ergebnis liefert. Da wir bisher immer an gesunden Menschen geübt haben, bin ich ab und zu richitg erschrocken, als man wirklich etwas Pathologisches hören, sehen oder tasten konnte. Vor allem das habe ich durch den Arzt-Patienten-Unterricht gelernt: Medizin geschieht nicht in den Büchern, Medizin muss man erleben.
Dr. Frankenstein
An einem Tag hatten wir einen Patienten mit einer Gürtelrose im Gesicht, woraufhin sich dort auch noch eine bakterielle Superinfektion ausbreitete. Das Resultat: Eine dicke, schwarze Kruste über die ganze, rechte, obere Gesichtshälfte. Schwierig dem Patienten dabei noch in die Augen zu schauen! Diesem Herren geht es aber wieder bestens, er konnte noch am selbern Tag nach Hause, die Kruste wird abfallen und die Erinnerungen an den Spitalaufenthalt verblassen.
Jung und krank
Das letzte Mal blieb mir besonders in Erinnerung. Ein junger Patient wartete auf uns im weissen Zimmer. Wir mussten nicht viel fragen, er erzählte gerne: Seit sieben Jahren lebe er praktisch im Spital, er sei ein IV-Fall. Man habe ihm praktisch den ganzen Darm entfernt, einen Magenschrittmacher eingesetzt (ja, so etwas gibt es) und er sei an der Prostata operiert worden. Ausserdem habe man ihm zwei künstliche Ausgänge, einen für den Urin und einen für den Stuhlgang, verpasst.
Er kam wegen einer Sepsis ins Spital, einer lebensbedrohlichen Organdysfunktion aufgrund einer Infektion durch Bakterien und Pilzen. Mein Freund und ich sassen ungläubig da, versuchten die Welt zu verstehen. «Wie kommen Sie den psychisch mit Ihrer Krankheitsgeschichte klar?», fragte ich besorgt. «Naja, ich bin alle fünf Wochen einen halben Tag lang etwas niedergeschlagen. Sonst geht es mir gut», ein Lächeln. Braune Zähne. «Früheres Übergewicht, starke Gewichtsreduktion», erklärt er, Bulimie. Braune Zähne. Die Geschichte will einfach nicht enden.
Nachdem wir den Fall dem zuständigen Arzt übergeben hatten, nahm er uns noch mit in eine Sitzecke. «Na, was denkt ihr?», fragt er mit müden, ehrlichen Augen. Wir erwähnten den unzerstörerischen Optimismus und das unglaublich unwahrscheinliche Pech, dass dieser Mann in ihrem Leben gehabt haben muss. Seine Augen werden müder, sein Lächeln leicht gequält: «Wir haben den Verdacht auf ein Münchhausen-Syndrom.» Da fällt der Groschen. Wir sind so unglaublich naiv. Das Münchhausen-Syndrom ist eine Krankheit, bei welchem die Patient*innen Symptome vortäuschen und sich selbst Schaden zufügen, um in Behandlung zu gelangen. Dieser Mann war unter vierzig Jahre alt, innerlich verstümmelt und dies möglicherweise gewollt.
Fazit
Mit Menschen umzugehen ist eine Kunst. Keiner gleicht dem Anderem. Die Geschichten können schrecklich traurig sein und genau deshalb will man den Patient*innen versuchen zu helfen. Auch wenn das einfach nur «aushalten» bedeutet. Obwohl ich nach jedem Unterricht wieder ein wenig Verarbeitungszeit benötigte, um das alles zu verstehen, was man erfahren hat, würde ich sofort wieder ins Spital, um Neues lernen. Wer das also noch vor sich hat, kann sich freuen. Mein Tipp: Es gibt keine dummen Fragen, aber auch keine dummen Antworten!
Dieser Artikel erschien 2017 auf dem Beast-Blog der Universität Basel. Er wurde für Campus Stories aktualisiert. Josefin schrieb bis 2021 für den Beast-Blog.
Um die Privatsphäre der Patienten zu schützen, wurden die Krankheitsgeschichten und Identitätsmerkmale so verändert, dass keine Rückschlüsse auf die Patienten gezogen werden können.