Wie sich Psychosen früh aufspüren lassen
Text: Yvonne Vahlensieck
Ein Team der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel entwickelt neue Methoden zur Früherkennung von Psychosen. Denn eine rechtzeitige Therapie kann den Verlauf dieser Krankheit entscheidend verbessern.
Eine Psychose – eine schwere psychische Störung, bei welcher der Realitätsbezug zeitweise verloren geht – ist keine seltene Krankheit: An einer Schizophrenie zum Beispiel erkranken im Lauf des Lebens bis zu 1 % der Bevölkerung – was in der Schweiz rund 80 000 Menschen wären. Oft dauert es jedoch viele Jahre, bis die Krankheit erkannt wird. Diese späte Diagnose hat Folgen – die Betroffenen müssen mehr Medikamente einnehmen, sind länger im Spital, haben häufiger Rückfälle und erleiden mit einer höheren Wahrscheinlichkeit einen sozialen Abstieg. Deshalb hat Prof. Anita Riecher-Rössler die Früherkennung von Psychosen zu einem Fokus ihrer Forschung gemacht: Ihr Ziel ist es, gefährdete Personen schon vor dem Ausbruch einer Psychose zu identifizieren, um möglichst früh mit einer Therapie beginnen zu können.
Dazu hat die Psychiaterin und Chefärztin zusammen mit ihrem Team am Zentrum für Gender Research und Früherkennung der Universitären Psychiatrischen Kliniken Basel eine Art Psychose-Checkliste entwickelt: Zunächst führt ein erfahrener Psychiater mit einer Person, die eine Abklärung wünscht, ein ausführliches Gespräch. Er fragt nach Symptomen, die oft schon Jahre vor dem Ausbruch der Krankheit vorübergehend oder in abgeschwächter Form auftreten – beispielsweise eigentümliche Wahrnehmungen, irrationale Ängste, Misstrauen und Persönlichkeitsveränderungen. Zusätzlich zu diesen Frühsymptomen werden allgemeine Risikofaktoren wie die genetische Veranlagung oder ein allfälliger Drogenkonsum erfasst. Anhand der Ergebnisse kann der Arzt beurteilen, ob jemand in den nächsten Jahren wahrscheinlich eine Psychose entwickeln wird.
Hohe Genauigkeit nötig
Solche sehr frühen Prognosen sind allerdings nicht unumstritten: Was, wenn die Vorhersage nicht eintrifft und doch keine Psychose ausbricht? Kritiker weisen darauf hin, dass gerade bei psychischen Erkrankungen eine falsche positive Diagnose besonders folgenreich ist, da sie oft zu einer Stigmatisierung führt. Auch Riecher-Rössler ist sich der Problematik bewusst: «Für eine psychiatrische Diagnose ist eine sehr viel bessere Risikoabschätzung nötig als für andere diagnostische Tests. Also haben wir unsere Forschungsarbeit in den letzten Jahren darauf konzentriert, die Genauigkeit der Vorhersage zu verbessern.»
Mehrere Studien haben gezeigt, dass etwa 40% der Personen, die aufgrund einer Checkliste als gefährdet eingestuft werden, innerhalb der nächsten Jahre tatsächlich eine Psychose entwickeln. Um diese Erfolgsquote zu verbessern, testete das Team von Riecher-Rössler im Rahmen einer grossen Studie eine Reihe von anderen Methoden, um zusätzliche Anzeichen für den bevorstehenden Ausbruch dieser Erkrankung zu identifizieren. Dafür unterzogen sie 234 Studienteilnehmer neben der Checkliste einer Reihe weiterer Untersuchungen wie Hormonanalysen, Magnetresonanztomografie (MRT) und neuropsychologischen Tests. Nachdem sich – bis zu sieben Jahre später – herausgestellt hatte, welche Studienteilnehmer eine Psychose entwickelten, konnten die Forschenden im Rückblick nachweisen, dass einige dieser Untersuchungen tatsächlich frühe Hinweise lieferten.
So zeigte die MRT, dass sich vor dem Ausbruch einer Psychose die sogenannte «graue Substanz» mit vielen Nervenzellkörpern in gewissen Hirnregionen vermindert. Bisher war nur bekannt, dass diese Substanz im Verlauf einer Psychose abgebaut wird. Die Basler Studie zeigte nun erstmals, dass dieser Prozess schon lange vorher beginnt. Ebenfalls im Vorfeld messbar war eine Verschlechterung der Feinmotorik und einiger Gedächtnisleistungen. Jeder einzelne dieser zusätzlichen Tests reicht nicht aus, um eine Psychose zuverlässig vorherzusagen. Doch durch die Kombination dieser Methoden mit den Voraussagen der Checkliste konnte die Arbeitsgruppe von Riecher-Rössler die Trefferquote der Prognose steigern – in einer Studie mit zusätzlichem MRT auf über 80%.
Neue Therapieansätze
Patienten, die nach einer solchen Abklärung als gefährdet gelten, werden in dieser Situation nicht alleine gelassen: Sie kommen regelmässig zu Kontrollen, erhalten psychotherapeutische und soziale Unterstützung, werden über die Krankheit aufgeklärt und wissen deshalb genau, wann sie sich sofort Hilfe suchen müssen. Kommt es zu einer Psychose, wird sofort auch mit Antipsychotika begonnen. «Wenn nur Frühsymptome bestehen und noch keine voll ausgeprägte Psychose vorliegt, kann mit der Einnahme von Medikamenten noch zugewartet werden, solange sich der Patient in einer stabilen Lebenslage befindet», erklärt Riecher-Rössler. Droht jedoch der soziale Abstieg, etwa durch den Verlust des Arbeitsplatzes, kommen Medikamente rechtzeitig zum Einsatz. Die Früherkennung von Psychosen ermöglicht auch völlig neue Therapieansätze: So soll erstmals eine Gruppentherapie angeboten werden, in der sich Menschen mit Risikopotenzial und Ersterkrankte zum Austausch treffen und gemeinsam lernen, mit der (drohenden) Krankheit umzugehen. «Eine solche Gruppentherapie ist mit Patienten im fortgeschrittenen Stadium manchmal nicht mehr möglich, da ein grosses Misstrauen gegenüber anderen Menschen zum Krankheitsbild gehört», so Riecher-Rössler.
Ursachenforschung im Kommen
Die Aufklärung von Prozessen, die im Vorstadium von Psychosen im Körper ablaufen, liefert auch neue Hinweise zur Entstehung von Psychosen – denn wodurch diese ausgelöst werden, ist immer noch weitgehend ungeklärt. Im Moment gehen die Forschenden von einem zweistufigen Modell aus: Danach besitzen Menschen eine mehr oder weniger grosse Grundanfälligkeit – zum Beispiel durch eine genetische Vorbelastung. Kommen dann im Lauf des Lebens psychische oder biologische Stressfaktoren oder zum Beispiel Cannabiskonsum dazu, kann dies den Ausbruch einer Psychose triggern. Riecher-Rössler vermutet, dass es dabei nicht eine einzige Ursache gibt: «Die Schizophrenie gibt es wahrscheinlich nicht. Eher handelt es sich um eine Gruppe schizophrener Psychosen mit unterschiedlichen Ursachen. Die Forschung krankt unter anderem auch daran, dass oft alles in einen Topf geworfen wird.»
Die Psychiaterin ist jedoch sicher, dass die Ursachenforschung in den nächsten Jahren einen grossen Sprung machen wird. Allein in den letzten Jahren hat die EU drei grosse Multizenter-Projekte bewilligt: Mithilfe des sogenannten «Machine Learning» werden Computerprogramme die Daten einer grossen Anzahl von Patienten nach Mustern durchsuchen: «Diese Methode wird uns erstmals erlauben, nicht nur Gruppen miteinander zu vergleichen, sondern auch Risikovorhersagen für Individuen zu machen», sagt Riecher-Rössler. In Zukunft sollen solche Analysen helfen, Psychosen möglichst früh zu erkennen und dabei verschiedene Untergruppen zu unterscheiden. Der nächste Schritt wäre dann eine massgeschneiderte «personalisierte» Therapie für jeden individuellen Patienten.
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