«Technische Fortschritte ohne bessere Kommunikation nützen nichts.»
Interview: Urs Hafner
Sabina Hunziker bringt angehenden Ärztinnen und Ärzten bei, wie sie mit ihren Patienten und Patientinnen richtig kommunizieren. Wenn jemand viel rede, sei das Wichtigste oft noch lange nicht ausgesprochen, sagt die Medizinprofessorin.
UNI NOVA: Frau Hunziker, ein Patient sitzt vor Ihnen und hört nicht auf, Ihnen sein Leid zu klagen. Er redet und redet ziellos immer weiter. Nervt Sie das?
SABINA HUNZIKER: Das fragen mich meine Studierenden jeweils auch … Es ist wichtig, dass Patientinnen und Patienten ihr Leiden in ihren Worten an uns herantragen können. Das hat den Vorteil, dass wir viel über sie erfahren und sie sich Luft verschaffen. So können wir uns ein erstes Bild von den Ursachen der Beschwerden machen. Der Nachteil: Unter Umständen erzählt der Patient nicht das, was wir für unsere Diagnose bräuchten, und viel kostbare Zeit verstreicht.
UNI NOVA: Das heisst, Sie unterbrechen?
HUNZIKER: Ja, wir strukturieren das Gespräch. Neben dem Abwarten und Zuhören erfragen wir spezifische Punkte und vermitteln gezielte Informationen. Idealerweise steigt die Ärztin patientenzentriert in das Gespräch ein, das heisst: Sie hört erst einmal aktiv zu. Sie lässt den Patienten reden und schweigt, versichert ihm aber mit knappen verbalen Reaktionen wie «Aha», «Verstehe», «Gut» und so weiter ihre volle Präsenz. Daneben ist aber auch die arztzentrierte Gesprächsführung wichtig, nämlich dann, wenn klar wird, wo das Problem liegt. Die Fachperson übernimmt die Gesprächsführung und grenzt die Problematik ein. Je nach Situation wechseln wir zwischen den zwei Gesprächsformen, der patientenzentrierten und der arztzentrierten.
UNI NOVA: Gehört das Zuhören nicht sowieso zu einer normalen, nicht pathologischen Kommunikation? Wenn Sie reden und ich eisern schweige, irritiert Sie das und Sie beginnen ebenfalls zu schweigen.
HUNZIKER: Natürlich, aber dessen muss man sich erst einmal bewusst werden, gerade im Medizinstudium. Wir üben solche Situationen etwa mit Videoaufnahmen von Simulationspatienten. Der Patient, der viel und im Kreis redet, hat vielleicht Sorgen, die er nicht artikulieren kann oder die ihm nicht bewusst sind. Etwas beschäftigt ihn, aber was? Die Ärztin versucht herauszufinden, was hinter dem vielen Reden steckt. Es kann die Spitze des Eisbergs sein.
UNI NOVA: Wann genau unterbrechen Sie den Patienten?
HUNZIKER: Wenn ich den Eindruck habe, dass ich nun für die Anamnese und Diagnose mehr wissen muss, stelle ich meine Fragen, mit denen ich meiner Hypothese nachgehe, die ich aufgrund der mir vorliegenden Daten und während des Zuhörens gebildet habe: Seit wann verspüren Sie den Schmerz, strahlt er aus, von welchen Symptomen wird er begleitet? Und so weiter. Ich will möglichst präzise Antworten. Diese sind genauso wichtig wie das vorbehaltlose Zuhören. Viele Studierende denken am Anfang, nur das Zuhören sei wichtig. Ein Gespräch besteht aber aus beiden Anteilen, zwischen denen jeweils gewechselt wird.
UNI NOVA: Ärzte wirken im Gespräch in ihrer Praxis oder am Spitalbett oft gehetzt und hören nicht gut zu.
HUNZIKER: Laut Studien unterbricht ein Arzt seinen Patienten im Schnitt nach 90 Sekunden das erste Mal. Dadurch gehen wichtige Informationen verloren, die uns helfen, eine Hypothese darüber zu bilden, welche Ursachen und Beweggründe hinter den geschilderten Beschwerden stehen. Aber schuld daran ist nicht nur unsere Ungeduld. Durch den zunehmenden finanziellen und zeitlichen Druck bleibt uns weniger Zeit, mit dem Patienten zu sprechen. Wir wissen zum Beispiel, dass ein Assistenzarzt den grössten Teil seiner Arbeitszeit für Administration und Berichte aufbringt. Anderseits gilt auch: Wenn ein Patient viel redet, ist das Wichtigste noch lange nicht gesagt. Und man kann ein gutes Gespräch auch in kurzer Zeit führen. Unsere Studierenden lernen, wie man die Gesprächssituation optimal gestaltet, also wie man professionell kommuniziert. Dafür gibt es geeignete Techniken. Man muss wissen, wie und wann man sie einsetzt.
UNI NOVA: Sie sind Professorin und stellvertretende Chefärztin für Psychosomatik und Kommunikation. Wie reagiert ein Chirurg, wenn Sie ihm erzählen, was Sie machen – nimmt er das ernst, hört er Ihnen überhaupt zu?
HUNZIKER: Natürlich stosse ich manchmal auf Skepsis, aber die Akzeptanz für die Bedeutung der Kommunikation in der Medizin hat in den letzten Jahren zugenommen. In den 1970er-Jahren war das Thema noch exotisch. Heute sind mehr Offenheit und Interesse da für die Gestaltung der professionellen Gesprächsführung, ebenso das Bewusstsein dafür, dass ein guter Arzt nicht nur über medizinisches Wissen, sondern auch über kommunikative Fertigkeiten verfügt. Unsere Patienten erwarten dies. Darum mag ich es nicht, wenn man die kommunikativen Fähigkeiten als «Soft skills» bezeichnet.
UNI NOVA: Sie müssen die Fähigkeiten empirisch erhärten.
HUNZIKER: Wir streben die sogenannte evidenzbasierte Kommunikation an, das heisst, wir erforschen sie mit randomisierten Studien. Wir weisen Kausalitäten nach: Wenn der Arzt Technik X benutzt, hat das für die Patientin Folge Y. Im Moment wird beispielsweise erforscht, ob die Vorbesprechung der Visite vor der Spitalzimmertür mit einer anschliessenden patientenfreundlichen Version im Zimmer besser ist für die Patienten – oder ob neu die ganze Visite an deren Bett durchzuführen ist. Dahinter steht die Überlegung, dass wir dem Patienten viel Zeit widmen, wovon er aber nicht viel mitbekommt. Anderseits könnte er sich durch die akademische Diskussion eingeschüchtert fühlen oder verunsichert sein oder merken, dass sich die Assistentin irrt, und daher fälschlicherweise auf deren Inkompetenz schliessen. Das ist eine wichtige, aber noch nicht geklärte Frage.
UNI NOVA: Welche Variante ziehen Sie vor?
HUNZIKER: Unsere Patienten werden mit sehr viel für sie neuen und unbekannten Informationen konfrontiert. Möglicherweise wird dies noch verstärkt durch die akademische Diskussion am Bett, wenn sie nicht alle Begriffe verstehen und es so zu Missverständnissen kommen kann. Daher ziehe ich die Besprechung vor der Zimmertür mit der anschliessenden patientenfreundlichen Version vor. Nach Abschluss der Studie werde ich mehr wissen.
UNI NOVA: Oft heisst es, die Ärzte würden ihren Patienten die Befunde nicht verständlich erklären – diese seien zu dicht formuliert und mit zu vielen Fachbegriffen gespickt.
HUNZIKER: Dass wir dem Patienten unser Wissen verständlich und geduldig darlegen, gehört ebenso zur professionellen Kommunikation wie das Aushalten heftiger Reaktionen, zum Beispiel Wut, Enttäuschung und Trauer. Studien zeigen, dass viele Ärztinnen und Ärzte dazu neigen, das Aufkommen von Emotionen – auch der eigenen – mit Informationsvermittlung zu verhindern oder davon abzulenken. Wir sind darauf getrimmt, Fakten mitzuteilen. Doch wenn sich der Patient nicht artikulieren kann und der Arzt ihn überinformiert, klappt die Kommunikation nicht. Das Problem – die Krankheit, das Leiden – wird nicht angegangen. Wir wissen aus der Forschung, dass sich grobe kommunikative Fehler im Verlauf der Arzt-Patienten-Beziehung kaum mehr gutmachen lassen und einen entscheidenden Einfluss auf das Wohlbefinden und die Gesundheit der Patienten haben.
UNI NOVA: Wenn der Patient in Tränen ausbricht, etwa nach einer Krebsdiagnose, berühren Sie ihn dann, um ihn zu trösten?
HUNZIKER: Es gibt hierfür keine Regel. Manche Ärzte legen in dieser Situation die Hand auf den Arm des Patienten, anderen ist das zu intim. Wichtig ist, dass die Reaktion authentisch ist. Mit dem Überbringen von schlechten Nachrichten sprechen die Ärzte kritische und oft lebensverändernde Themen an. Daher ist hier neben der medizinischen Information die empathische Kompetenz äusserst wichtig. Die Diagnose einer unheilbaren Krebserkrankung zum Beispiel hat einen enormen Einfluss auf die Lebensqualität des Patienten. Sie ändert dessen Lebens- und Zukunftsperspektive schlagartig. Was und wie wir kommunizieren, ist daher besonders wichtig. Aus einer Studie zu Angehörigen von Patienten, die einen Herzkreislaufstillstand hatten und wiederbelebt werden mussten, wissen wir, dass die Kommunikation der Angehörigen mit dem Behandlungsteam ein wichtiger Faktor dafür war, wie häufig die Betroffenen posttraumatische Belastungsstörungen, Depressionen oder Angststörungen entwickelten.
UNI NOVA: Was lehren Sie Ihre Studierenden für einen solchen Fall?
HUNZIKER: Man muss das Gespräch gut vorbereiten, damit man über alle vorliegenden Befunde informiert ist und weiss, wie viel die Angehörigen und die Patienten wissen. Die Information sollte kurz und verständlich übermittelt werden. Zentral ist, auf Emotionen einzugehen und diesen Raum zu lassen.
UNI NOVA: Im Medizinstudium wird vor allem gebüffelt. Wer nicht genug auswendig lernt, schafft den Numerus clausus nicht. Geduld und soziale Kompetenzen aber werden nicht geprüft. Verläuft die Selektion falsch?
HUNZIKER: Es ist nicht einfach, eine gute Selektion zu treffen. In der Schweiz prüft der Numerus clausus vor allem die intellektuellen Fertigkeiten, nicht aber soziale und kommunikative Kompetenzen wie in den USA. Ich könnte mir vorstellen, dass die kommunikativen Kompetenzen künftig mitgetestet werden. Das Medizinstudium und der medizinische Beruf sind hingegen auch aus intellektueller Sicht anspruchsvoll. Es braucht viel Fleiss und Ehrgeiz, um zu bestehen. Auch später, im Arztberuf, muss man Stressoren bewältigen. Daher ist es wichtig, dass Studierende diese früh aushalten. An der Universität Basel haben wir ein Curriculum, das während des ganzen Studiums kommunikative und soziale Kompetenzen vermittelt. Das ist schweizweit einmalig.
UNI NOVA: Das Nationale Forschungsprogramm «Lebensende» hat ergeben, dass in den Spitälern die Kommunikation zwischen den Ärzten verschiedener Abteilungen oft nicht gut läuft, also wenn es zum Beispiel darum geht, wo vor dem Tod stehende Kranke zu betreuen sind.
HUNZIKER: Das ist ein wichtiger Punkt: Professionelle Kommunikation in der Medizin betrifft auch die Kommunikation unter Ärzten und Ärztinnen. Studien zu Notfalleinsätzen zeigen, dass das richtige Verhalten der Ärzte die Performance ihrer Teams entscheidend verbessert. Eine gute Führungskommunikation hat zur Folge, dass der Einsatz mit weniger Unterbrechungen verläuft und zum Beispiel die Reanimation von Betroffenen früher einsetzt.
UNI NOVA: Die Medizin wird heute stark bestimmt von der Technik: von computergesteuerten Instrumenten und grossen Datenmengen, sei es zu Krankheiten oder zu den Patienten. Manche Ärzte schauen daher in der Sprechstunde öfter auf den Bildschirm als in das Gesicht des Patienten. Ist die Technik die Feindin der Kommunikation?
HUNZIKER: Nein, im Gegenteil: Die Fortschritte der Technik, welche die Heilung vieler Krankheiten vorantreibt, verlangen von uns, dass wir kommunikativ besser werden, sonst nützen sie nichts. Die Technik stellt an uns Ärztinnen und Ärzte höhere kommunikative Herausforderungen denn je. Daran arbeiten wir.
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