Syrien: Nicht ohne die Bevölkerung.
Text: Samanta Siegfried
Für einen nachhaltigen Frieden muss die Zivilgesellschaft in Verhandlungen eingebunden werden. Das sagt die Politologin Sara Hellmüller von der Universität Basel. An einem konkreten Versuch im Syrienkonflikt war sie selbst beteiligt.
Wie gross muss das Leiden noch werden, bevor sich im Syrienkonflikt eine Einigung abzeichnet? Diese Frage wird mit jedem Jahr, das der Krieg andauert, drängender. Heute zählt er acht Jahre, mehr als 5,6 Millionen geflüchtete und 6,7 Millionen im Land vertriebene Menschen. Mindestens 500'000 Menschen haben ihr Leben verloren. Eine politische Lösung ist nicht in Sicht.
Das hat auch mit der Komplexität des Konflikts zu tun: Nicht nur zwischen Regierung und Opposition braucht es eine Einigung, auch internationale Grossmächte wie Russland und die USA, regionale Player wie Saudi-Arabien und Iran, extremistische Kräfte und zahlreiche nationale Gruppierungen sind mit ihren Interessen präsent. Wer dabei oft vergessen geht, ist die lokale Bevölkerung.
Zivilgesellschaft in Genf
«Zivilgesellschaftliche Akteure sind für einen Friedensprozess extrem wichtig, werden aber oft zu wenig wahrgenommen», sagt Sara Hellmüller, Forscherin an der Universität Basel und der Schweizerischen Friedensstiftung swisspeace. Seit einigen Jahren findet nun ein Umdenken statt. Die Wissenschaft spricht von einem «Local turn» seit Beginn des 21. Jahrhunderts: von der Erkenntnis, dass ein Friedensabkommen, das nur unter den Eliten ausgehandelt wurde, nicht nachhaltig sein kann.
Seit 2012 hat deshalb die UNO den «Einbezug der Zivilgesellschaft» als einen von acht Punkten in ihren Richtlinien für eine wirksame Mediation aufgenommen. Die Praxis sieht jedoch oft anders aus. Einige Kritiker argumentieren, dass der Einbezug lokaler Akteure eine Einigung nur verzögere. «Steht ein Mediator vor der Wahl, die Gewalt zu beenden oder nachhaltigen Frieden zu bilden, entscheidet er sich meistens für Ersteres», sagt Hellmüller. Eine Strategie, wie sie auch die ersten zwei UN-Sondergesandten im Syrienkonflikt, Kofi Annan und Lakhdar Brahimi, angewendet hatten.
Dass sich die beiden Ziele nicht ausschliessen müssen, zeigt die Strategie des dritten UN-Sondergesandten im Syrien-Konflikt, Staffan de Mistura. Im Januar 2016 lancierte er den «Civilian Society Support Room» (CSSR). Die Idee: Während der offiziellen Verhandlungen werden auch Akteure der syrischen Zivilgesellschaft in den Palais des Nations nach Genf eingeladen, um ihre Standpunkte mit dem Mediationsteam zu teilen.
Während einige Akteure an mehreren Verhandlungen dabei waren, kamen jedes Mal auch neue hinzu. Diese Kombination aus Kontinuität und Rotation sollte eine grösstmögliche Vielfalt von Teilnehmenden ermöglichen und ein breites Bild der syrischen Zivilgesellschaft abbilden. Bisher fanden in Genf neun CSSR-Treffen statt, angeleitet vom Norwegischen Zentrum für Konfliktresolution (NOREF) und swisspeace – beteiligt war dabei auch Hellmüller als Co-Leiterin.
Die Vorteile des Projekts sind zahlreich, betont die Forscherin: Der CSSR hilft, die Geschehnisse in Genf mit denen in Syrien besser zu verbinden. Die zivilgesellschaftlichen Akteure bringen spezifisches Hintergrundwissen ein und geben dem Mediationsteam wertvolle Einblicke in die Situation vor Ort, besonders im humanitären Bereich. So gab es etwa ausserhalb der Verhandlungen Momente, in denen die Teilnehmenden aus Syrien das Mediationsteam per Handy informierten, wenn es irgendwo brenzlig wurde. «Wir haben es geschafft, den Menschen, die sonst nicht zu Wort kommen, eine Stimme zu geben», so Hellmüller.
Staffan de Mistura war der erste UN-Sondergesandte im Syrien-Konflikt, der diesen inklusiven Ansatz wählte. Anders als seine Vorgänger war er der Meinung, dass die Präsenz der Zivilgesellschaft den Prozess nicht verzögert, sondern vielmehr Druck auf die Konfliktparteien ausüben kann, sich um eine politische Einigung zu bemühen. «Während die Fronten der offiziellen Verhandlungspartner verhärtet sind, können die vielfältigen Akteure der Zivilgesellschaft zeigen, dass es möglich ist, sich über Konfliktlinien hinweg zu einigen», sagt Hellmüller.
Das Dilemma der Legitimität
Trotzdem lässt der CSSR im aktuellen Kontext viele Fragen offen: Je mehr Verhandlungen verstrichen, desto unruhiger wurden die syrischen Teilnehmenden. «Während ich in Genf über Frieden rede, sterben zu Hause meine Kollegen», sagten einige. Kritik wurde laut, dass sie nicht genügend über die Verhandlungsergebnisse informiert und ihre Anliegen nicht ernsthaft eingebracht wurden. Manche überlegten sich, dem Prozess fernzubleiben. «Das brachte uns in ein Dilemma», erzählt Hellmüller. «Wenn wir den Prozess mit der Zivilgesellschaft fortsetzen, ohne dass die Verhandlungen nennenswerte Resultate vorweisen, verliert er an Legitimität. Brechen wir ihn ab, schwindet die Legitimität der Verhandlungen, weil wichtige Akteure fehlen würden.»
Um dem entgegenzuhalten, fingen die Organisatoren an, die zivilgesellschaftlichen Akteure auch ausserhalb der offiziellen Verhandlungen zu treffen, um die Entwicklungen in Genf zu besprechen, oder sie führten Videokonferenzen mit Menschen vor Ort durch. Trotzdem blieb die Grundproblematik bestehen: «Wir bemühten uns um Inklusion in einem Prozess, der sich nicht vom Fleck rührt», sagt Hellmüller.
Vieles geht weiter
In der Konfliktforschung gibt es verschiedene Theorien dazu, was es für eine erfolgreiche Mediation braucht. Auf Syrien angewandt, gibt es dabei ein Problem: Der Konflikt gilt gar nicht als reif für eine Mediation. Eine der Grundvoraussetzungen – nämlich die Bereitschaft der Konfliktparteien, zu verhandeln – ist in Syrien nicht gegeben. Besonders nach dem Fall von Aleppo, als sich ein militärischer Sieg der Regierung abzeichnete. «Vor diesem Hintergrund besteht die Gefahr, dass die Genfer Verhandlungen zu einer Alibiveranstaltung der UNO für die Konfliktparteien werden», so Hellmüller. Trotzdem könne die UNO natürlich nicht tatenlos zusehen. Nachdem Staffan de Mistura im Oktober 2018 zurückgetreten ist, versucht nun mit Geir Pederson bereits der vierte UN-Sondergesandte, in Syrien zu schlichten. Auch Pederson werde auf zivilgesellschaftliche Inklusion setzen, ist Hellmüller sicher. Das Projekt CSSR habe die Teilnahme der Zivilgesellschaft auch für künftige Verhandlungen institutionalisiert.
Ansonsten gibt sich die Friedensforscherin zurückhaltend: «Ich habe Hoffnung, dass sich die Situation für die Bevölkerung vor Ort bald verbessern wird. Darüber hinaus befürchte ich, dass, unter dem Deckmantel eines vermeintlichen Friedensabkommens, vieles weitergehen wird wie bisher.» An den grossen Frieden glaube sie in naher Zukunft nicht. Wer ihr am meisten Mut macht, ist die Zivilgesellschaft. «Die Widerstandsfähigkeit der lokalen Bevölkerung hat mich zutiefst beeindruckt», sagt Hellmüller. «Diese Kraft und dieser Zusammenhalt werden mit Sicherheit fortbestehen.»
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