Von Prinzessinnenzimmern und Autopalästen.
Text: Eva Mell
Wie die Einrichtung von Kinderzimmern immer wieder aufs Neue Geschlechterrollen
zementiert, untersucht die Geschlechterforscherin Dominique Grisard. Sie erklärt, wie stark heutige Eltern noch immer von bürgerlichen Vorstellungen geprägt sind.
Der Bauch wölbt sich: Ein Baby wächst heran. Ein Individuum. Welche Interessen wird es haben? Wird es einmal fasziniert Insekten beobachten? Oder konzentriert die Lieblingspuppe wickeln? Für die werdenden Eltern gibt es nur einen Hinweis auf sein Wesen: Es wird ein Mädchen! Und so streichen sie das Zimmer der ungeborenen Persönlichkeit rosa und hängen Spiegel und Blumenbilder an die Wand. «Schon vor der Geburt wird das Kinderzimmer heutzutage oft geschlechtsspezifisch eingerichtet», sagt Dominique Grisard, die am Zentrum Gender Studies der Universität Basel im Rahmen des Projekts «Bedroom Cultures» Kinderzimmer von 1880 bis heute erforscht.
Die Historikerin und Geschlechterforscherin untersucht die Frage, wie die Geschlechterordnung immer wieder neu hergestellt wird und was Schlafzimmer, vor allem Kinderzimmer, damit zu tun haben. «Die Geschlechterdifferenz wird schon früh in der Kindheit systematisch hergestellt, und zwar über Räume», bilanziert sie.
Ort der Identitätsbildung
Das Kinderzimmer sei im Laufe der Geschichte zu einem Ort der Individualisierung und Identitätsfindung geworden – und dazu gehöre die Entwicklung der Geschlechtsidentität. Deshalb, so beobachtet es Dominique Grisard, wollen Eltern im Idealfall jedem ihrer Kinder ein eigenes Zimmer zur Verfügung stellen. «Wenn das nicht möglich ist, trennen sie die Zimmer nach Geschlechtern», sagt die Forscherin und ergänzt: «Es ist heute schon fast ein Naturgesetz, dass Buben und Mädchen kein Zimmer teilen können.»
Wenn Dominique Grisard für ihr Forschungsprojekt Schweizer Wohnungen betritt, ist sie immer wieder überrascht, wie sehr Eltern sich selbst für ihre Kinder zurückstellen. «Einige Mütter und Väter, die nicht genügend Schlafzimmer für alle haben, verzichten auf ihr Elternzimmer und schlafen im Wohnzimmer», sagt sie. Als Resultat vermissen vor allem Mütter einen Rückzugsort im eigenen Zuhause.
Im Gegenzug haben ihre Töchter ein Prinzessinnenzimmer mit Spiegeln, Glitzer und Plüsch und die Buben sind in ihren Zimmern meist von dunklen Farben und Technikspielzeug umgeben. Den Mädchen wird laut Dominique Grisard über die Zimmereinrichtung schon sehr früh vermittelt, wie wichtig es in unserer Gesellschaft ist, hübsch auszusehen. Die Bubenzimmer hingegen fördern eher Aktivität oder gar Aggressivität.
Liebevolle Frauen, starke Männer
Um zu verstehen, wie und weshalb die Einrichtung von Kinderzimmern immer wieder aufs Neue Geschlechterrollen festlegt, schaut Dominique Grisard auch in die Vergangenheit. Genauer gesagt: ans Ende des 19. Jahrhunderts.
Zu jener Zeit etablierten sich im Bürgertum Geschlechterrollen, die noch heute unsere Vorstellungen davon prägen, was männlich ist und was weiblich: Die bürgerliche Frau sollte ganz in ihrer Rolle als Mutter aufgehen. Nur die aufopferungsvolle Mutter und Hausfrau konnte gemäss dem bürgerlichen Ideal am besten für die Kernfamilie – bestehend aus Vater, Mutter und Kindern – sorgen. Sie sollte das Zuhause zu einem Wohlfühlort machen, galt als liebevoll und emotional. Im Gegensatz dazu beanspruchte der bürgerliche Mann den öffentlichen Raum für sich, galt als stark und rational.
Mit der Zeit seien schliesslich die einzelnen Schlafzimmer «vergeschlechtlicht» und die Rollen von Mann und Frau somit immer stärker verfestigt worden, erklärt Dominique Grisard. Zunächst jedoch habe das Bürgertum nur die Trennung in ein Elternschlafzimmer und ein gemeinsames Kinderschlafzimmer vollzogen. Damit wollten bürgerliche Eltern verhindern, dass ihre Kinder sie beim Geschlechtsverkehr sahen – und sich zugleich von der Arbeiterklasse abgrenzen, in der die ganze Familie in einem Raum nächtigte.
Wunschkind im Traumzimmer
Seitdem hat sich an der Raumaufteilung einiges verändert. Neben dem Modell, dass Eltern heutzutage ihren Raum zugunsten der Kinder aufgeben, lassen andere ihre Söhne und Töchter im gemeinsamen Familienbett übernachten. «Historisch ist das eine Folge der Sakralisierung von Kindern», erklärt Dominique Grisard. Im Laufe des 20. Jahrhunderts wurde die Kernfamilie kleiner, zur Welt kommen in Europa seitdem vor allem geplante Wunschkinder, die immer stärker in den Fokus der Erziehungsberechtigten rücken. Eltern wollen ihrem Nachwuchs alle Möglichkeiten offenhalten, um die eigene Identität voll zu entfalten – und zwar nach wie vor auf der Grundlage der Geschlechterdifferenzen, die im Bürgertum angelegt wurden.
Das zarte, emotionale Mädchen in einem Zimmer mit dem starken Buben? Sobald Eltern es sich finanziell leisten konnten, wollten sie dieses Szenario vermeiden und tun es heute noch. Aber gleichen die Geschlechterrollen von heute denen von damals tatsächlich noch? «Eltern von heute wollen zwar, dass ihr Mädchen eine Prinzessin sein kann und einen Raum hat, der einer Königstochter würdig ist», sagt Dominique Grisard. Aber sie betont: «Gleichzeitig wollen sie, dass das Mädchen im Leben alle Chancen hat. Darüber gibt es einen Konsens, den es früher nicht gab.»
Weltraumforscherin in Pink
Während die werdenden Eltern also das Babyzimmer der ungeborenen Tochter rosa streichen, wünschen sie sich, dass ihr kleines Individuum später einmal Programmiererin oder Weltraumforscherin werden kann, falls es denn will. «Wir Menschen sind eben widersprüchlich und unterschiedliche Diskurse beeinflussen uns», kommentiert Dominique Grisard. Doch selbst wenn Eltern alle Chancen für ihr Kind wollen, die geschlechtsspezifische Einrichtung festige zunächst einmal die bürgerliche Geschlechterordnung.
Verstärkt werde diese Entwicklung durch das genderspezifische Marketing von Spielzeugherstellern. Ihre Produkte ziehen ins Mädchen- oder Bubenzimmer ein, gemischtgeschlechtliche Zimmer werden dadurch immer schwerer vorstellbar. «Bei einer Minderheit von Eltern gibt es Anstrengungen, die Stereotype aufzuweichen», sagt Dominique Grisard und schliesst: «Es gibt also noch viel zu tun auf dem Weg zu einer Gesellschaft, die nicht mehr so stark nach hübschen Mädchen und aktiven Jungen trennt.»
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