Ausbeutung der natürlichen Ressourcen – eine mittelalterliche Idee?
Text: Karsten Engel
Gemäss der Bibel ist der Mensch etwas Besonderes. Berechtigt ihn das, die Natur auszunutzen? Diese Frage beschäftigte bereits Magnus Hundt im Spätmittelalter. Was wir von seinen Ansichten lernen können.
Schon wieder steht eine Krise im Raum – diesmal eine Energiekrise. Ein neuer Krieg in Europa, die Abhängigkeit von fossilen Energieträgern wie Gas und Öl und nicht zuletzt der nahende Winter befeuern eine eigentlich längst abgeschlossen geglaubte Debatte: Welches sind gute und welches sind schlechte Energiequellen?
Alles steht nun auf dem Kopf. Während Kernenergie und Kohlekraft seit einiger Zeit zurecht als Auslaufmodelle galten, werden vielleicht nun gerade sie zu den Beschützerinnen des Friedens in Europa. Denn vor allem Gas und Öl ermöglichen die Kriegsfinanzierung.
Also: Kohle- und Atomkraftwerke für den Frieden? Dass darin keine zufriedenstellende Lösung liegen kann, wissen wir längst. Wir übernutzen damit nämlich unsere natürlichen Ressourcen, bringen die eigenen Lebensgrundlagen in Gefahr und kreieren in und um Atommülllager eine lebensfeindliche Umgebung. Und trotzdem wird die Kernenergie in diesen Tagen in der Bevölkerung wieder populärer.
Bereits in den 1960er-Jahren stellte der Mediävist Lynn White die These auf, der recht ausschweifende Umgang der Menschen mit den natürlichen Ressourcen finde seinen Ursprung im Mittelalter. Dann sei nämlich mit dem verstärkten Nachdenken über die Worte des Alten Testaments die Idee kultiviert worden, dass sich der Mensch über die Natur erheben solle, weil diese für ihn gemacht sei. Wie, wenn nicht so, sollte der biblische Schöpfungsbericht (Genesis 1,28) verstanden werden, demzufolge Gott den Menschen beauftragte: «Seid fruchtbar und mehret euch und erfüllet die Erde und macht sie euch untertan! Herrschet über die Fische des Meeres und über die Vögel des Himmels und über alles Getier, das sich auf Erden regt!»
Auch wenn Whites These bereits zu seinen Lebzeiten für eine grosse Debatte sorgte, hat sie an Aktualität nichts eingebüsst. In der Geschichtswissenschaft dreht sich nämlich derzeit vieles um die Frage, mit welchem Selbstverständnis der Mensch seiner Umwelt in Vergangenheit und Gegenwart begegnete und begegnet. Das haben die sechsten Schweizerischen Geschichtstage im vergangenen Sommer gezeigt.
Der Anthropologe Philippe Descola hatte 2005 beispielsweise deutlich gemacht, dass die in unserem Denken verinnerlichte Trennung von Kultur (als der Sphäre des Menschen) und Natur (ihrem «Gegenpart») nicht alternativlos ist. Andere Kulturen, die diese Separierung so nicht kennen, leben mehr im Einklang mit der Natur. In unserer Kultur aber, so die Auffassung vieler Anhängerinnen und Anhänger Descolas, habe die besagte Trennung den Menschen seinem Selbstverständnis nach immer weiter von der Natur entfernt. Er verstehe sich deshalb nicht mehr als ein Teil von ihr, sondern als etwas von ihr Verschiedenes. Die Vermutung liegt nahe, dass dies die ausbeuterische Ressourcennutzung begünstigte.
Der Mensch als irdischer Steuermann
Der Befund, dass der Mensch sich nicht als Teil der Natur versteht, treibt die Geschichtsschreibenden seither um – auch in der Mittelalterforschung. Hat sich die mittelalterliche Idee vom Menschen als Herrscher über die Natur bis heute in den Köpfen verfestigt? Und ist das «dunkle» Mittelalter wieder einmal der Ursprung alles Schlechten – in dem Fall gar unserer ökologischen Krise? In einem vom Schweizerischen Nationalfonds geförderten Projekt an der Universität Basel untersucht ein kleines Team derzeit auch das Menschenbild des spätmittelalterlichen Philosophen Magnus Hundt (1449–1519). Hundt gibt einige wichtige Antworten darauf, wie der Mensch sich in Mittelalter und Renaissance gegenüber der Natur positionierte. Eine Untersuchung der Gedanken Hundts hilft deshalb dabei, die Thesen von White und Descola zu überprüfen.
Auch bei Hundt sind die Menschen die von Gott ausgezeichneten Lebewesen. Gemäss dem Alten Testament hätten sie eine besondere Würde, weil sie das Abbild Gottes seien. Unter Referenz auf verschiedene antike und mittelalterliche Autoren fasst Hundt zusammen, der Mensch sei der Massstab von allem, enthalte alles, in ihm komme alles zusammen. Er sei Ziel von allem, erkenne alles, könne alles herstellen, zu ihm strebe alles hin. Deshalb sei der Mensch auch das würdigste aller Geschöpfe, sogar würdiger als die Engel.
Aus diesen Formulierungen geht bereits ein gewisses Menschenbild hervor: Der Mensch ist nicht ein Produkt der Schöpfung unter vielen anderen, sondern ein ganz besonderes, das sich von allen anderen unterscheidet. Darum sei der Mensch auch von Gott als irdischer «Steuermann» eingesetzt worden und regiere somit über die anderen Geschöpfe, die in erster Linie dazu da seien, den Menschen zu dienen.
In Bezug auf die Selbstabgrenzung des Menschen von den Tieren und Pflanzen treffen die Analysen von Lynn White und Philippe Descola also weitestgehend auch auf Hundt zu: Ein Mensch im Mittelalter und in der Renaissance versteht sich als Lenker und Leiter der Natur und war deshalb anscheinend auch dazu berechtigt, über die anderen Geschöpfe zu verfügen. Dieses Menschenbild hat bei Magnus Hundt aber auch eine Kehrseite, die in seinen Schriften an einigen Stellen deutlich zum Vorschein kommt: Als ein Steuermann kann sich der Mensch nicht ohne Rücksicht auf die Natur an dieser bereichern. Hundt betont nämlich auch, dass der Mensch sehr wohl um seine Abhängigkeit von den Tieren und Pflanzen wissen müsse. Immerhin wäre seine Nahrungssuche ohne sie erfolglos.
Hundts Gedanken für heute nutzen
Am Beispiel von Magnus Hundt lässt sich also ganz gut zeigen, was das eigentliche Problem mit der Übernutzung natürlicher Ressourcen ist: Wenn sich der Mensch ohne Rücksicht auf Verluste an der Natur bedient, verfügt er über einen falsch verstandenen Begriff von Herrschaft und missversteht seine Rolle als Steuermann über die Natur. «Steuern» heisst nämlich auch Verantwortung zu tragen und der Pflicht zu unterliegen, das System langfristig und nachhaltig am Laufen zu halten.
Übertragen auf heute heisst das: Gerade wenn der Mensch um die Risiken der Ressourcenübernutzung weiss und als Lenker und Leiter der Natur auftritt, muss sein Leben und Handeln nachhaltig ausgerichtet sein. Dazu gehört auch, kurzfristige ökonomische Reize oder Bequemlichkeiten nicht als erste Priorität auszuzeichnen, sondern sich stets die eigene Abhängigkeit von und Demut vor der Natur vor Augen zu führen.
Um mit Hundt zu sprechen, kann der Mensch erst dann seine ausgezeichnete Position in der Welt wirklich ausfüllen, wenn ihm das gelingt. Auch wenn die mittelalterliche Anthropologie den Menschen im Vergleich zu den anderen Geschöpfen und der Natur gedanklich zu separieren scheint, bedeutet dies nicht zwangsläufig, dass der ideengeschichtliche Ursprung der gegenwärtigen Umweltkrise im Mittelalter liegt.
Die Idee einer höheren Priorität des Menschen gegenüber der restlichen Natur mag zwar heute nicht mehr zeitgemäss sein. Sie ist aber in Bezug auf die Umwelt nicht per se problematisch, sondern wird es erst dann, wenn der Mensch seine Steuerfunktion falsch versteht und verantwortungslos handelt. Wie Hundt zeigt, fiel das im Mittelalter und der Renaissance nicht notwendigerweise zusammen. Weil das Gleiche bis in die heutige Zeit gilt, ist seine Analyse auch ein bemerkenswerter Beitrag im Hinblick auf aktuelle politische Debatten.
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