Nachhaltige Lösungsmittel – gibt’s das?
Text: Santina Russo
Viele der in der Industrie verwendeten Lösungsmittel sind giftig und müssen aufwendig entsorgt werden. Forschende aus Basel, Bern und Zürich schaffen Grundlagen, um die schädlichen Flüssigkeiten durch neue, unbedenkliche zu ersetzen.
Sei es fürs Färben von Kleidung, um Kunststoffe oder Lacke herzustellen oder um Altlasten aus verseuchten Böden zu entfernen: Viele Industrie- und Gewerbezweige benötigen für ihre Prozesse Lösungsmittel. Manche davon sind unbedenklich, viele aber giftig und krebserregend. Sie müssen aufwendig aufbereitet und entsorgt werden – das kostet viel Geld und Energie. Darum untersuchen Forschende seit einigen Jahren eine bestimmte Klasse von Lösungsmitteln, die künftig gesundheitsschädigende Mittel ersetzen könnten: sogenannte eutektische Flüssigkeiten.
Der komplizierte Name bezeichnet etwas einigermassen Simples, nämlich eine Mischung aus zwei Substanzen, die einen tieferen Schmelzpunkt hat als die einzelnen Komponenten. Einen ähnlichen Effekt hat im Winter das Salzen der Strassen: Salzwasser hat einen tieferen Schmelzpunkt als reines Wasser, darum gefriert es erst bei tieferen Temperaturen zu Eis.
Lösungsmittel mit Soft Skills
Genau wie konventionelle Lösungsmittel, können eutektische Flüssigkeiten Moleküle lösen und so prinzipiell für die gleichen Aufgaben genutzt werden. Für die praktische Anwendung haben sie aber entscheidende Vorteile: Erstens sind sie leicht herzustellen, man muss sie nur im richtigen Verhältnis mischen. Zweitens ist besonders eine bestimmte Gruppe dieser Flüssigkeiten gesundheitlich und für die Umwelt völlig unbedenklich und darum auch deutlich einfacher zu entsorgen als herkömmliche Lösungsmittel.
«Dadurch wären eutektische Lösungsmittel gleichzeitig nachhaltiger und günstiger», sagt Markus Meuwly, Professor für Physikalische Chemie an der Universität Basel. Allerdings: Sie werden erst seit rund 20 Jahren untersucht, darum gibt es über sie noch viel herauszufinden.
Ein Knackpunkt war bisher, dass kaum etwas über die molekulare Struktur eutektischer Mischungen bekannt war. Es gab auch kein Verfahren, um strukturelle Informationen zu gewinnen. «So liess sich nicht feststellen, wie ihre Funktion zustande kommt und wie sich ihre Eigenschaften für praktische Anwendungen beeinflussen lassen», sagt Meuwly. «In der Chemie gibt die Struktur von Substanzen deren Funktion vor», erklärt er. «Umgekehrt lässt sich die Funktion anpassen, indem man die Struktur verändert. Dazu benötigen wir aber eine Methode, um die Anordnung der Bestandteile solcher Flüssigkeiten zu bestimmen.» Eine solche hat Meuwlys Team nun zusammen mit Forschenden der Universitäten Bern und Zürich entwickelt. Damit hat das Team die Grundlage geschaffen, um in eutektischen Flüssigkeiten Struktur-Funktionsbeziehungen zu untersuchen.
Experiment und Computermodell
Entwickelt und validiert haben die Forschenden das neue Verfahren an Mischungen aus Kaliumthiocyanat und Acetamid, einer Art Modellsubstanz unter den eutektischen Flüssigkeiten. Einerseits nutzten sie spezialisierte Methoden der Infrarotspektroskopie, um bestimmte Wechselwirkungen zwischen den Molekülen und Ionen der Flüssigkeiten zu untersuchen. Daraus wiederum konnten sie Rückschlüsse auf die Abstände und die Anordnung der Teilchen untereinander ziehen.
Andererseits hat Kai Töpfer, Postdoc in der Forschungsgruppe von Markus Meuwly, die Strukturen der Mischungen am Computer simuliert. Dazu hat er ein Modell entwickelt, das die Wechselwirkungen zwischen den Molekülen und Ionen beschreibt.
Diese Interaktionen sind in eutektischen Flüssigkeiten vielfältig: Zum einen sind gewisse Teilchen elektrisch geladen – in der untersuchten Mischung etwa das Thiocyanat-Ion (SCN-) oder das Kalium-Ion (K+) – und darum starker elektrostatischer Anziehung oder Abstossung unterworfen. Zum anderen bilden die Bestandteile untereinander ein Netzwerk aus sogenannten Wasserstoffbrücken, das sind schwächere elektrostatische Anziehungskräfte. Unter anderem kommen sie in Wasser vor und halten Wassertropfen zusammen.
«All diese Eigenschaften und Interaktionen ermöglichen erst, dass andere Moleküle von den Flüssigkeiten aufgenommen – eben gelöst – werden können», erklärt Kai Töpfer. «Auch der Wasseranteil spielt eine grosse Rolle, da Wassermoleküle polar sind und ein dichtes, stabiles Netzwerk von Wasserstoffbrücken bilden, wobei positiv und negativ geladene Atome eines Wassermoleküls mit entgegengesetzt geladenen Atomen eines andern Wassermoleküls wechselwirken.»
Der nächste Schritt: Vorhersagen
So weit die Theorie. Die spektroskopischen Experimente an den Universitäten Zürich und Bern sowie die Computersimulationen der Basler Forschenden zeigten nun, wie die Bestandteile der Kaliumthiocyanat-Acetamid-Mischungen räumlich angeordnet sind und wovon dies abhängt. Unter anderem wurde dadurch klar, wie sich die Struktur der Flüssigkeiten mit zunehmendem Wasseranteil veränderten.
Beispielsweise lagen die Thiocyanat-Ionen (SCN-) bei einem tiefen Wasser- und entsprechend hohen Acetamid-Anteil meist weit auseinander und kamen in ganz verschiedenen Orientierungen zueinander vor. Mit einem höheren Wasseranteil nahmen die Ionen fixere Orientierungen ein und rückten näher zusammen – obschon sich zwei negativ geladene SCN-Ionen eigentlich stark abstossen. Gleichzeitig lagerten sich um die Ionen immer grössere Cluster aus Wassermolekülen an. Durch diese Beobachtungen versteht das Forschungsteam nun besser, wie die Eigenschaften der eutektischen Mischung zustande kommen.
Das wichtigste Ergebnis für die Forschenden war aber, dass die Resultate ihrer Computersimulationen grundsätzlich mit jenen der spektroskopischen Messungen übereinstimmten. «Damit haben wir unser Computermodell validiert», sagt Töpfer.
Aufgrund der Ergebnisse hat er inzwischen sein Modell unter anderem mit Machine-Learning-Methoden weiter verbessert, sodass dieses die Wechselwirkungen in den Mischungen noch besser abbildet. «Nun können wir einen Schritt weiter gehen und damit anfangen, die Strukturen von Flüssigkeiten und deren Eigenschaften vorherzusagen.»
In Zukunft wollen die Forschenden am Computer gezielt eutektische Mischungen modellieren und deren Eigenschaften vorhersagen. Auf diese Weise, so die Idee, liesse sich deren Zusammensetzung von vornherein so entwerfen, dass sie eine gewünschte Funktionalität aufweisen. Denkbar wären etwa eutektische Lösungsmittel, die sich ideal dafür eignen, Schwermetalle aus Böden zu entfernen – und zwar auf nachhaltige Weise, ohne dass sie selbst zum Umweltproblem werden.
Weitere Artikel in dieser Ausgabe von UNI NOVA (Mai 2023).