Wieder sehen.
Text: Angelika Jacobs
Bisher gibt es keine Therapien, die das Augenlicht wiederherstellen können. Basler Forschende haben sich vorgenommen, das zu ändern.
Blind zu werden ist ähnlich gefürchtet, wie an Krebs oder Alzheimer zu erkranken. Das zeigen verschiedene Umfragen. In Industrieländern gehören die altersbedingte Makuladegeneration (AMD) und erbliche Netzhauterkrankungen zu den häufigsten Ursachen für Blindheit. «Die Forschung an Therapien, um die Sehkraft wiederherzustellen, hat lange kaum Fortschritte gemacht», sagt Bence György. Der Forscher am Augenforschungsinstitut IOB, das mit der Universität Basel zusammenhängt, arbeitet mit seinem Team daran, Ergebnisse aus grundlegenderen Forschungsarbeiten in die klinische Praxis zu überführen.
Versuche internationaler Forschungsgruppen, Blinden ihr Sehvermögen zurückzugeben, gab es indes schon viele. Und fast ebenso viele Niederlagen. Grosse Hoffnungen liegen heute auf Gentherapien: Forschende weltweit arbeiten daran, in der Netzhaut Genmutationen zu reparieren oder das defekte Gen zu ersetzen, um den Verlust der Sehkraft aufzuhalten. All diese Bemühungen helfen jedoch nicht, wenn die genetischen Ursachen unklar sind, wie etwa bei der altersbedingten Makuladegeneration.
Solche Gentherapien müssten ausserdem früh ansetzen. Denn ein fortgeschrittenes oder vollständiges Erblinden umzukehren, schafft niemand. Zumindest noch nicht. Denn Bence György arbeitet mit seiner Forschungsgruppe an einer Methode, eine blinde Netzhaut wieder lichtempfindlich zu machen: Die Forschenden statten Lichtsinneszellen, die ihren Lichtsensor verloren haben, mit einem neuen aus.
Aber der Reihe nach: Die Netzhaut besteht aus mehreren Schichten. Da sind zum einen die Lichtsinneszellen, genauer gesagt Zapfen für Sehschärfe und Farben sowie Stäbchen für Nachtsicht mit geringer Auflösung. Darunter liegen zwei weitere Schichten: die bipolaren Zellen und die Ganglienzellen. Beide reagieren nicht auf Licht, aber verarbeiten die Signale der Zapfen und Stäbchen weiter. Schliesslich leiten die Ganglienzellen die Reize via Sehnerv ans Gehirn.
Ein erster Teilerfolg.
Vor wenigen Jahren gelang es Forschenden um Botond Roska, Professor an der Universität Basel und Direktor des IOB, ein Lichtsensor-Protein in Ganglienzellen einzubauen. Ein Patient, der aufgrund der Erbkrankheit Retinitis pigmentosa erblindet war, erhielt so einen Teil seiner Sehkraft zurück.
Das Bild, das er nun wahrnehmen kann, ist jedoch alles andere als klar. «Wenn man die Ganglienzellen lichtempfindlich macht, überspringt man einen grossen Teil der Verarbeitungsschaltkreise in der Netzhaut», erklärt Bence György. Deshalb kommt ein sehr verzerrtes Bild heraus.
Deshalb wollte György mit seinem Team herausfinden, ob bei blinden Patientinnen und Patienten nicht doch noch Lichtsinneszellen in der Retina vorhanden sind, die man wieder lichtempfindlich machen könnte. Der Fokus lag dabei auf den Zapfen, die für das alltägliche Sehen die Hauptrolle spielen. In der sogenannten Sehgrube, die das Zentrum unseres Blickfelds erfasst, stehen die Zapfen dicht an dicht. Sie erlauben uns beispielsweise, zu lesen oder Gesichter zu erkennen.
Die Forschenden untersuchten im Rahmen der EyeConic-Studie die Sehgrube in rund 400 komplett erblindeten Augen von 286 Patientinnen und Patienten. Dabei stellte sich heraus, dass in fast zwei Dritteln der Fälle noch Zapfen vorhanden waren. Bei einem Drittel sogar ungefähr in normaler Anzahl.
«Das war eine Überraschung und ist eine wichtige Voraussetzung für unsere Idee, eine breit anwendbare Therapie zu entwickeln, die nicht nur für eine kleine Gruppe an Betroffenen funktioniert», so György. Genauere Analysen boten ein klareres Bild: Ein hervorstehender Teil der Zapfenzellen, der die lichtempfindlichen Proteine enthält, stirbt ab. Die Zellkörper überleben jedoch bei einer Mehrheit, reagieren aber eben nicht mehr auf Licht.
Neuer Lichtsensor für blinde Zellen.
«Das nächste Problem war, zu prüfen, wie wir spezifisch die Zapfen mit einem neuen Lichtsensor ausstatten konnten», erklärt György. Hier kam eine Technik namens Optogenetik ins Spiel, die vor rund 20 Jahren die Neurowissenschaft revolutioniert hat: Mit molekularbiologischen Methoden lassen sich lichtsensitive Proteine in Nervenzellen einbauen, sodass man sie gezielt mit Licht aktivieren kann.
Einen solchen optogenetischen Lichtsensor enwickelten und testeten die Forschenden an menschlicher Netzhaut, die aus Organspenden stammt und generell nicht transplantiert werden kann. Seit wenigen Jahren lässt sich menschliche Retina im Labor erhalten, aber auch hier werden die Zapfen innerhalb weniger Stunden nach der Organentnahme unempfindlich gegen Licht.
Wenn man eine solche Retina auf einem feinen Netz von Elektroden platziert, lässt sich ihre schwindende Aktivität messen. Nachdem die Forschenden ihr aber mittels Gentherapie den genetischen Bauplan für den Lichtsensor eingebaut hatten, zeigte die Netzhaut wieder lichtabhängige Aktivität – auch Wochen nach der Organentnahme. Tierversuche erbrachten ähnlich vielversprechende Ergebnisse. Das damit erzeugte Sehvermögen dürfte dem eines gesunden Auges zumindest in Sachen Schärfe relativ nahekommen.
Allerdings muss man sich das wahrgenommene Bild in Graustufen vorstellen. Noch gelingt es nicht, die verschiedenen Zapfentypen für blaues, rotes und grünes Licht mit unterschiedlichen Lichtsensoren für verschiedene Wellenlängen auszustatten. Das steht auf der Liste an Weiterentwicklungen, die noch kommen könnten, wenn sich der Ansatz in der klinischen Praxis bewährt.
Um die Weiterentwicklung der Therapie bis dahin voranzutreiben, haben die Forschenden ein Spin-off in Basel namens «RhyGaze» gegründet. Erste klinische Studien mit Patientinnen und Patienten, die vollständig blind sind, aber noch Zapfen in ihrer Retina haben, dürften 2026 starten, schätzt Bence György. Dann wird sich zeigen, ob sich die Hoffnung der Forschenden bewahrheitet und Blinde mit dieser Therapie einen grossen Teil ihrer Sehkraft zurückbekommen.
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