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Naher Osten – Region in Bewegung (01/2019)

Leserrepliken zum Debattenbeitrag von Prof. Stefan Felder

«Kostbare Solidaritätstradition»

Als Betroffener einer seltenen Krankheit und in meiner Funktion als Patientenschützer, bin ich leider immer wieder mit besorgniserregenden Diskriminierungsversuchen gegen Menschen mit seltenen Krankheiten konfrontiert. Die Diskriminierung kommt in Form konkreter Handlungen vor, wie zum Beispiel in der ausgeprägten Ungerechtigkeit in der Vergütung wichtiger Behandlungen für Patienten mit seltenen Leiden, die oft den willkürlichen Entscheiden ihrer Krankenversicherer und ihrer Gesundheitssysteme ausgeliefert sind. Die Diskriminierung kommt aber immer wieder auch in Form gefährlicher Thesen vor, wie die von Herrn Professor Stefan Felder. Als Betroffener aber auch als Bürger der Schweiz, eines Landes mit einer grossen Solidaritätstradition, und schlicht und einfach als Mensch finde ich seine Thesen äusserst verwerflich. Und sie sind nicht nur verwerflich, sondern in ihrem Grundsatz auch falsch, denn Forschung an seltenen Krankheiten führt zu wichtigem Wissen über biologische Mechanismen, die eine Rolle auch bei verbreiteteren Leiden und Volkskrankheiten spielen, und Medikamente, die ursprünglich gezielt für eine seltene Krankheit entwickelt wurden, finden dann auch Verwendung bei häufigeren Leiden. Irreführend ist auch, das Myozyme-Bundesgerichtsurteil als Beispiel zu nennen, denn dieses Urteil ist längst überholt und wird nicht mehr als Messlatte einer Kostengrenze verwendet.

Verwerflich und gefährlich sind die Thesen von Herrn Professor Felder, weil sie am Grundsatz unseres Schweizerischen Solidaritätssystem rütteln, und weil sie einen «Krieg zwischen Kranken» in Kauf nehmen. Sollen z.B. Heaptitis-Kranke die neuartigen, heilenden Medikamente nur dann bekommen, wenn sie keine Mitverantwortung für ihre Infektion tragen, und nicht diejenigen, die sich durch einen fahrlässigen Umgang mit Spritzen selbst infiziert haben, z.B. Drogenabhängige? Wenn die Mitverantwortung als Kriterium zählen würde, dann müssten Betroffene seltener Krankheiten auf jeden Fall therapiert werden, da sie ja nichts für ihr Schicksal können, und Drogenabhängige oder verunfallte Extremsportler hingegen nicht, da sie ja für ihren Zustand eine beträchtliche Mitverantwortung tragen. Wollen wir wirklich diesen Krieg zwischen Kranken anstiften? Wollen wir als Gesellschaft wirklich diese Entscheide darüber treffen, wer es verdient, therapiert zu werden und wer nicht, und sind wir dazu bereit, uns dieser fahrlässigen, wenn auch ungewollten Annährung an die Ideologien der Menschenlebennutzenvermesser aus dem letzten Jahrhundert unterwerfen? Ich hoffe zutiefst, dass unsere solidaritätsbewusste Schweiz nie diesen Thesen verfallen wird, denn ich würde nicht Teil einer Gesellschaft sein wollen, die Menschenleben nach ihrem angeblichen Nutzen wertet, und in der Betroffene seltener Krankheiten als Bürger zweiter Klasse geduldet und gar supprimiert werden, indem ihnen der medizinische Fortschritt vorenthalten wird.

Für unser Zusammenleben und damit die Schweiz ihre kostbare Solidaritätstradition weiterhin hochhalten kann, und wie Frau Professor Bernice Elger in ihrer Gegenthese, wofür ich ihr dankbar bin, schreibt: Es lohnt sich für uns alle, seltene Krankheiten zu erforschen!

Dr. Rocco Falchetto
Präsident Schweizerische Gesellschaft für Porphyrie (SGP) und International Porphyria Patient Network (IPPN)


 

«Utilitaristische Sichtweise»

Meines Erachtens ist bereits die Formulierung des Titels «Lohnt es sich…» tendenziös, weil er die wirtschaftliche Seite ungebührlich in den Vordergrund stellt und er die Würde vergisst, die jedem Menschen innewohnt, unabhängig davon ob er oder sie mit einer seltenen Krankheit behaftet ist oder nicht. Jeder Mensch hat Anrecht auf die bestmögliche Behandlung, was z.B. in der Behinderten-Konvention festgehalten ist. Dazu gehört auch, dass über seltenen Krankheiten geforscht wird. Das von Herrn Felder zitierte Bundesgerichtsurteil im Myozymfall ist längst überholt und zugunsten der Patientin revidiert worden. Zudem haben das Bundesgericht und verschiedene Kantonsgerichte das Recht von Personen mit seltenen Krankheiten auf wissenschaftlich belegte Behandlungen unterstützt und ermöglicht. Im Weiteren hat das Bundesgericht gerade kürzlich festgehalten, dass es die QALY's und damit das Kernstück des von Herrn Felder so hoch gelobten britische Gesundheits-Utilitarismus, nicht unterstützt (BGE 9C_744/2018).

In Bezug auf die anfallenden Gesundheitskosten soll darauf hingewiesen werden, dass es zurzeit nur für einen Bruchteil der seltenen Krankheiten Therapien gibt, die den Krankheitsverlauf wesentlich verbessern und das wird auch in absehbarer Zukunft so bleiben. Allerdings können wissenschaftliche Entwicklungen in der Biomedizin zu neuen Wirkprinzipien und daher auch zu neuartigen Medikamenten führen, was für eine Reihe von bisher nicht-behandelbaren Krankheiten neue Hoffnung bringt. Die Kosten der Krankenkassen für die Behandlung von Personen mit seltenen Krankheiten ist in der Schweiz schlecht erfasst, wurde aber vor 3 Jahren von einer Krankenkasse als ungefähr 3% der gesamten Medikamentenkosten (was 0,5% der Gesamtgesundheitskosten entspricht) ermittelt. Wenn man von 8% Betroffene mit seltenen Krankheiten in der Gesamtbevölkerung ausgeht, ist damit die Kostenfolge tiefer als im Durchschnitt.

Die simplifizierende utilitaristische Sichtweise von Herrn Stefan Felder und seine Verteidigung von Rationierung der Gesundheitsfürsorge bei seltenen Krankheiten hat Anklang zum Begriff des «Lebensunwerten Lebens», der uns aus dem letzten Jahrhundert in unguter Erinnerung ist. Selbst im Utilitarismus kann dem Schwächeren (hier dem mit einer seltenen Krankheit Betroffenen) ein höherer Stellenwert gegenüber den Stärkeren eingeräumt werden, wie Derek Parfit bereits 2012 ausführt (Utilitas, 24:399). Dies hat auch das von Herrn Felder hochgelobte britische Gesundheitssystem erkannt, indem es für die Behandlung von seltenen Krankheiten höhere QALY's zulässt als für häufigere Krankheiten.

Anders als die Briten und Norweger, die (gemäss Zitat Felder) offenbar seltenen Krankheiten keinen besonderen Stellenwert geben, findet die Schweizer Bevölkerung in überwältigender Mehrheit, dass Behandlungen mit seltenen Krankheiten nach medizinischen Grundlagen erfolgen soll und das unabhängig von allfälligen Kostenfolgen (Gesundheitsmonitor 2018, gfs Bern). Die von Herrn Felder vertretene Sichtweise dürfte daher in der Schweiz nicht Mehrheits-fähig sein.

Es spricht also nichts dagegen, dass in der Schweiz über seltene Krankheiten auch in Zukunft geforscht wird, in der Hoffnung, das Los der durch Zufall und Schicksal mit einer seltenen Krankheit Betroffenen in Zukunft verbessern zu können.

Prof. Dr. Elisabeth Minder
Stadtspital Triemli Zürich, Honorary consultant Porphyrie


 

Perspektive eines Scientist-Patients

Tatsächlich frage ich mich als Betroffene einer seltenen Krankheit, ob es sich für uns Patienten lohnt an Forschungsprojekten und Studien teilzunehmen. Zunächst ist man allen Risiken und Belastungen ausgesetzt, die mit den Tests einhergehen. Die wenigsten der Therapieansätze schaffen es dann auch bis zur Zulassung, nur wenn eine ausreichende Wirksamkeit nachgewiesen werden kann, wird diese erteilt. Trotzdem bedeutet eine Zulassung nicht, dass die Patienten auch Zugang zu der Behandlung bekommen – selbst wenn es sich um die einzige Therapie für die Krankheit handelt. Experimente an Menschen sind seit der Deklaration von Helsinki nur noch dann zulässig, wenn der zu erwartende Nutzen die zu erwartenden Risiken übertrifft. Ohne Zugang zu zugelassenen Medikamenten wird diese Abwägung immer negativ, denn die Studienteilnehmer haben Zeit und Risikobereitschaft investiert, ohne jemals von den Ergebnissen der Forschung zu profitieren. Häufig profitieren jedoch andere Patientengruppen von den Resultaten, da man mit den Studien auch mehr über einen Wirkstoff gelernt hat, zum Beispiel über dessen Sicherheitsprofil. Tatsächlich lohnt sich die Erforschung seltener Krankheiten also, es fragt sich nur – für wen?

Herr Felder möchte Forschung, die effizient und gerecht ist. Investiere man in die Erforschung einer seltenen Krankheit, würden einer halben Million Diabetikern in der Schweiz der mögliche Nutzen durch Forschung an ihrer Erkrankung entgehen, so seine Argumentation. Nur: Bei der Forschung an Volkskrankheiten geht es häufig gar nicht mehr darum eine Therapie zu finden, sondern nur noch darum, bestehende Therapien zu optimieren. Trotz einem relativ gesehenen geringen Zuwachs an Nutzen für die Patienten rentiert sich solche Forschung, wenn damit Marktanteile gesichert werden können. Sogenannte «Me-Too»-Präparate, bei denen es überhaupt keinen zusätzlichen Nutzen gibt, sondern die lediglich mit minimalen Veränderungen in der Rezeptur dazu dienen ein Patent zu verlängern, zeigen die Absurdität des aktuellen Anreizsystems auf. Diese Forschung ist, selbst nach den Massstäben des Utilitarismus, sinnentleert.

Echte Innovationen schaffen einen Mehrwert über das aktuelle Anwendungsgebiet hinaus, wie auch Frau Prof. Bernice Elger treffend darlegt. Die Forschung an seltenen Krankheiten ermöglicht einen einzigartigen Erkenntnisgewinn. Nur Gerechtigkeit bei der Teilhabe an den Ergebnissen der Forschung garantiert die Bereitschaft, weiterhin zu investieren - wenn wir Patienten den Eindruck bekommen, dass sich Forschung für uns nicht mehr lohnt, werden wir als Gesellschaft ärmer.

Nebenbemerkungen: Der Beitrag von Herr Felder enthält überholte Angaben und unzulässige Vergleich. So wurde z.B. das Gerichtsurteil zur Kostenübernahem von Myozyme zur Therapie von Morbus Pompe revidiert, und es sind nicht 2,8% der Schweizer Bevölkerung betroffen, sondern gerade mal ca. 60-80 Personen. In England wird aktuell sehr wohl die Seltenheit einer Erkrankung mit in die Erwägungen einbezogen, es gibt sogar ein eigenständiges Verfahren zur Beurteilung, das Highly Specialised Technologies Evaluation Committee.

Dr. Jasmin Barman-Aksözen
Schweizerische Gesellschaft für Porphyrie und International Porphyria Patient Network

 


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