Wider den Extremismus.
Text: Sandra Schlumpf-Thurnherr
Mein Buch: Die Iberoromanistin Prof. Sandra Schlumpf-Thurnherr empfiehlt den 1938 erschienenen Briefroman «Adressat unbekannt» der US-amerikanischen Schriftstellerin Kathrine Kressmann Taylor.
Ich lese gerne dicke Bücher, die so spannend sind, dass ich die Lektüre kaum unterbrechen kann, etwa die Bestseller von Julia Navarro oder die Tetralogie von Carlos Ruiz Zafón. Am liebsten mag ich Taschenbücher, die mir, auf dem Sofa liegend, nicht zu schwer in der Hand wiegen. Doch es braucht nicht immer viele Seiten, um eine packende Geschichte zu erzählen und gleichzeitig einen lang wirkenden Eindruck zu hinterlassen. So ging es mir bei diesem Buch. Auf knapp 60 Seiten lesen wir, wie eine Jugendfreundschaft durch politische Wirren dramatisch in die Brüche geht. Mich erinnert dies an die aktuelle Lage in Katalonien, wo Familien und Freundschaften wegen der tiefen politischen Differenzen zwischen Gegnern und Befürwortern einer Unabhängigkeit zerbrechen – zum Glück meist unblutig.
Anders verläuft es in «Adressat unbekannt», wo wir uns in den 1930er Jahren wiederfinden. In einem Briefwechsel zwischen den Protagonisten, Max Eisenstein in San Francisco und Martin Schulse in München, erleben wir die anfänglich auf beiden Seiten auftretenden Sorgen angesichts der immer hasserfüllteren Lage in Deutschland. Ein tragischer Höhepunkt ist die Rückkehr von Max’ Schwester nach Berlin, wo sie Schutz vor antisemitischer Verfolgung suchen muss. Sie wendet sich an den gemeinsamen Jugendfreund Martin. Doch dieser weist sie an seiner Haustür zurück, während SA-Leute heraneilen. Hätte er anders reagieren können, ohne seine geliebte Ehefrau und den kleinen Sohn Adolf, sein Ansehen in der arischen Gesellschaft oder sein eigenes Leben zu bedrohen?
Die Briefe zwischen Max und Martin werden zunehmend kürzer und distanzierter – aus eigener Entscheidung oder als Reaktion auf die omnipräsente Zensur? Wie reagiert unser jüdischer Protagonist in Kalifornien? Kann er sich gegen die Ereignisse in seinem Heimatland wehren? Was geschieht, wenn er sich die Kontrollmechanismen der feindlichen Macht zu eigen macht?
Auch heute prägen die politischen Umstände unser Leben. Angriffe auf Synagogen sind wieder öfters in den Schlagzeilen, der Aufstieg populistischer Kräfte ist vielerorts zu beobachten und es stellt sich die Frage, was extremistischen Kräften entgegengehalten werden kann. Das Buch bietet in knappster Form einen persönlichen und berührenden Einblick in eine bekannte Epoche der deutschen Geschichte und gibt wichtige Denkanstösse, die heute aktueller sind denn je.
Sandra Schlumpf-Thurnherr ist Assistenzprofessorin für Iberoromanische und Allgemeine Sprachwissenschaft im Fachbereich Iberoromanistik der Universität Basel. Sie forscht vor allem zur Sprache der sephardischen Juden (Judenspanisch) und zur spanischen Sprache in Afrika. Zurzeit erarbeitet sie ihr Habilitationsprojekt zur soziolinguistischen Situation der Immigrantinnen und Immigranten aus Äquatorialguinea in Madrid.
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