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Wie wir entscheiden. (01/2020)

«Menschen entscheiden vielfältig.»

Interview: Christoph Dieffenbacher

In der Forschung über menschliche Entscheidungen rücken die Psychologie und die Ökonomie nahe zusammen. Einer der Ersten, der sich an der Universität Basel mit dem Thema intensiv befasst hat, ist Prof. Dr. Jörg Rieskamp.

Illustriertes Portrait von Prof. Dr. Jörg Rieskamp. (Illustration: Studio Nippoldt)
Prof. Dr. Jörg Rieskamp. (Illustration: Studio Nippoldt)

UNI NOVA: Herr Rieskamp, es heisst, dass ein erwach­sener Mensch jeden Tag Zehntausende von Entschei­dungen zu treffen habe. Warum weiss man darüber so wenig?

JÖRG RIESKAMP: Obwohl die Entscheidungspsycholo­gie eine relativ junge Wissenschaft ist, stehen wir nicht ganz am Anfang. Wir konnten schon eine Reihe von Erkenntnissen vorlegen. Die Entschei­dungsforschung erhielt beispielsweise besondere Aufmerksamkeit, als vor rund 20 Jahren die beiden Forscher Daniel Kahneman, ein Psychologe, und Ver­non L. Smith, ein Ökonom, aus den USA für ihre Arbeiten den Wirtschaftsnobelpreis erhielten. Un­sere Forschung steht immer im Wechselspiel zur Ökonomie, die häufig einen rational agierenden Menschen in ihren Theorien postuliert. Doch statt auf Normativität konzentrieren wir Psychologinnen und Psychologen uns mehr auf die grundlegenden kognitiven Prozesse, die zu Urteilen und Entschei­dungen führen …

UNI NOVA: … und grenzen sich dabei vom Bild des Homo oeconomicus ab, der sich nach dem grösst­möglichen wirtschaftlichen Nutzen richtet?

RIESKAMP: Ja, das ist der Punkt. Denn Entscheidungen einer bestimmten Person hängen von vielen Fakto­ren ab – wie etwa von der Situation und dem Kon­text. Solche Einflüsse können sich auch bei verschie­denen Menschen vielfältig auswirken. Wir haben beispielsweise gezeigt, dass bestimmte Persönlich­keitsmerkmale Entscheidungen stark beeinflussen. Diese Merkmale bleiben in der Regel ein Leben lang relativ stabil. Beispielsweise unterscheiden sich Men­schen hinsichtlich ihrer sogenannten Risikopräfe­renz: Die meisten Menschen sind risikoscheu, aber es gibt auch Menschen, die sehr risikofreudig sind. Dabei muss man aber sehen, dass sich unsere Aufga­ben und Anforderungen im Leben verändern. Je nach Situation werden dann mehr oder weniger riskante Entscheidungen getroffen. Dabei sind das Lebensal­ter und die damit zur Verfügung stehenden Ressour­cen sehr entscheidend.

UNI NOVA: Wirtschaftswissenschaften und Psycholo­gie arbeiten in dieser Art Forschung eng zusammen. Soll Letztere den Ersteren dabei helfen, das ökonomi­sche System als Ganzes am Laufen zu halten?

RIESKAMP: Helfen würde ich nicht sagen. Wir Psycho­logen haben einfach einen anderen Fokus, indem wir erklären wollen, wie Menschen Entscheidungen tref­fen. Falls wir in der Beschreibung des menschlichen Verhaltens zu anderen Resultaten als die Ökonomen kommen, könnten diese Erkenntnisse dazu beitra­gen, realitätsnähere Modelle in den Wirtschaftswis­senschaften zu entwickeln. Dieses Wechselspiel zeichnet sich an der Universität Basel beispielsweise durch unser Bernoulli-Network aus, bei dem der Aus­tausch zwischen Psychologie und Ökonomie im Vor­dergrund steht.

UNI NOVA: Wenn Menschen zu Kunden und Anlegern werden: Wie nahe stehen sich Ökonomie und Psy­chologe in der Entscheidungsforschung?

RIESKAMP: Es gibt wesentliche Unterschiede: Bei vie­len individuellen Entscheidungen sind die mögli­chen Konsequenzen nicht vollkommen sicher. Ent­scheidungen werden unter unsicheren Bedingungen und Risiko getroffen, wie wir Psychologen sagen. Beim Konsumverhalten vernachlässigen wir häufig diese Unsicherheit: Bei der Wahl eines Waschmittels im Supermarkt gehen wir davon aus, dass der Preis feststeht und an der Kasse nicht noch einmal geän­dert wird. Ganz anders wiederum sieht es bei Anla­geentscheidungen, beispielsweise bei der Altersvor­sorge, aus. Eine Anlage in Aktien führt nicht notwen­digerweise zu einer hohen Rendite, insbesondere bei kurzfristiger Betrachtung. Hier ist es wichtig, die unterschiedlichen Risikotypen von Menschen zu be­achten und auch die Risikotoleranz zu erfassen. Nach der letzten Finanzkrise wurden Banken ja auch dazu verpflichtet, ihre Kunden und Kundinnen umfassen­der über die angebotenen Produkte und deren Risi­ken zu informieren.

UNI NOVA: Wir treffen täglich Entscheidungen, deren Folgen unsicher sind. Entscheiden würde also heissen, zwischen verschiedenen Risiken zu wählen?

RIESKAMP: Ja, das sieht man deutlich bei Gesundheits­fragen. So konnten viele Menschen zu Beginn das Risiko des Coronavirus nur schwer bewerten und einschätzen, was natürlich auch mit der einherge­henden Dynamik zusammenhängt. Und bei der Wahl eines Verkehrsmittels wissen viele Menschen nicht, wie gross die Unterschiede punkto Gefährlichkeit statistisch sind – wie riskant etwa Motorradfahren im Vergleich zum Autofahren ist und wiederum wie sicher man im Flugzeug sitzt. Menschen schätzen bestimmte Risiken und Gefahren unterschiedlich und nicht immer genau ein. Das Risiko von neuen und furchterregenden Gefahren wird häufig über­schätzt, während das Risiko von Gefahren unter­schätzt wird, mit denen wir schon lange umgehen und mit denen wir vertraut sind. Dabei stimmt die subjektive Wahrnehmung eines Risikos oft nicht mit der objektiven Gefahr überein.

UNI NOVA: Täuscht der Eindruck, dass der Mensch in Sachen Abschätzen von Risiko und Wahrscheinlich­keit nicht besonders gut ist?

RIESKAMP: Naja, die Wahrscheinlichkeitstheorie ge­hört zur Mathematik, die viele Menschen nicht be­sonders gut beherrschen. Deshalb fällt es Menschen in neuen Situationen häufig schwer, konkrete und genaue Wahrscheinlichkeitsschätzungen zu geben. Wenn jemand hingegen viel Erfahrung in einem Be­reich gesammelt hat und als Expertin oder Experte gilt, können dessen Schätzungen sehr präzise sein. So gehen beispielsweise Meteorologen sehr gut mit Wahrscheinlichkeitsangaben bei Wetterprognosen um. Zur Kommunikation und zum besseren Ver­ständnis von Wahrscheinlichkeiten ist es dann aller­dings notwendig, die Referenzklasse genauer zu er­klären, also die Klasse von Ereignissen oder Objek­ten, auf die sich die Wahrscheinlichkeit bezieht.

UNI NOVA: Verstehen Sie sich eher als Grundlagen- oder als anwendungsorientierter Forscher?

RIESKAMP: Als beides. Indem wir die kognitiven Pro­zesse beim Menschen untersuchen, die zu vielfälti­gen Entscheidungen führen, sind wir klar Grundla­genforscher. Doch das Schöne an dieser Wissenschaft ist, dass wir durch die Erklärung von Entscheidun­gen auch schnell deren praktische Relevanz und de­ren Anwendungsbezug herstellen können. Beispiels­weise sollte man jemandem, der in seinem allgemei­nen Verhalten sehr risikoscheu ist, abraten, sein ganzes Vermögen kurzfristig in Aktien anzulegen.


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