«Menschen entscheiden vielfältig.»
Interview: Christoph Dieffenbacher
In der Forschung über menschliche Entscheidungen rücken die Psychologie und die Ökonomie nahe zusammen. Einer der Ersten, der sich an der Universität Basel mit dem Thema intensiv befasst hat, ist Prof. Dr. Jörg Rieskamp.
UNI NOVA: Herr Rieskamp, es heisst, dass ein erwachsener Mensch jeden Tag Zehntausende von Entscheidungen zu treffen habe. Warum weiss man darüber so wenig?
JÖRG RIESKAMP: Obwohl die Entscheidungspsychologie eine relativ junge Wissenschaft ist, stehen wir nicht ganz am Anfang. Wir konnten schon eine Reihe von Erkenntnissen vorlegen. Die Entscheidungsforschung erhielt beispielsweise besondere Aufmerksamkeit, als vor rund 20 Jahren die beiden Forscher Daniel Kahneman, ein Psychologe, und Vernon L. Smith, ein Ökonom, aus den USA für ihre Arbeiten den Wirtschaftsnobelpreis erhielten. Unsere Forschung steht immer im Wechselspiel zur Ökonomie, die häufig einen rational agierenden Menschen in ihren Theorien postuliert. Doch statt auf Normativität konzentrieren wir Psychologinnen und Psychologen uns mehr auf die grundlegenden kognitiven Prozesse, die zu Urteilen und Entscheidungen führen …
UNI NOVA: … und grenzen sich dabei vom Bild des Homo oeconomicus ab, der sich nach dem grösstmöglichen wirtschaftlichen Nutzen richtet?
RIESKAMP: Ja, das ist der Punkt. Denn Entscheidungen einer bestimmten Person hängen von vielen Faktoren ab – wie etwa von der Situation und dem Kontext. Solche Einflüsse können sich auch bei verschiedenen Menschen vielfältig auswirken. Wir haben beispielsweise gezeigt, dass bestimmte Persönlichkeitsmerkmale Entscheidungen stark beeinflussen. Diese Merkmale bleiben in der Regel ein Leben lang relativ stabil. Beispielsweise unterscheiden sich Menschen hinsichtlich ihrer sogenannten Risikopräferenz: Die meisten Menschen sind risikoscheu, aber es gibt auch Menschen, die sehr risikofreudig sind. Dabei muss man aber sehen, dass sich unsere Aufgaben und Anforderungen im Leben verändern. Je nach Situation werden dann mehr oder weniger riskante Entscheidungen getroffen. Dabei sind das Lebensalter und die damit zur Verfügung stehenden Ressourcen sehr entscheidend.
UNI NOVA: Wirtschaftswissenschaften und Psychologie arbeiten in dieser Art Forschung eng zusammen. Soll Letztere den Ersteren dabei helfen, das ökonomische System als Ganzes am Laufen zu halten?
RIESKAMP: Helfen würde ich nicht sagen. Wir Psychologen haben einfach einen anderen Fokus, indem wir erklären wollen, wie Menschen Entscheidungen treffen. Falls wir in der Beschreibung des menschlichen Verhaltens zu anderen Resultaten als die Ökonomen kommen, könnten diese Erkenntnisse dazu beitragen, realitätsnähere Modelle in den Wirtschaftswissenschaften zu entwickeln. Dieses Wechselspiel zeichnet sich an der Universität Basel beispielsweise durch unser Bernoulli-Network aus, bei dem der Austausch zwischen Psychologie und Ökonomie im Vordergrund steht.
UNI NOVA: Wenn Menschen zu Kunden und Anlegern werden: Wie nahe stehen sich Ökonomie und Psychologe in der Entscheidungsforschung?
RIESKAMP: Es gibt wesentliche Unterschiede: Bei vielen individuellen Entscheidungen sind die möglichen Konsequenzen nicht vollkommen sicher. Entscheidungen werden unter unsicheren Bedingungen und Risiko getroffen, wie wir Psychologen sagen. Beim Konsumverhalten vernachlässigen wir häufig diese Unsicherheit: Bei der Wahl eines Waschmittels im Supermarkt gehen wir davon aus, dass der Preis feststeht und an der Kasse nicht noch einmal geändert wird. Ganz anders wiederum sieht es bei Anlageentscheidungen, beispielsweise bei der Altersvorsorge, aus. Eine Anlage in Aktien führt nicht notwendigerweise zu einer hohen Rendite, insbesondere bei kurzfristiger Betrachtung. Hier ist es wichtig, die unterschiedlichen Risikotypen von Menschen zu beachten und auch die Risikotoleranz zu erfassen. Nach der letzten Finanzkrise wurden Banken ja auch dazu verpflichtet, ihre Kunden und Kundinnen umfassender über die angebotenen Produkte und deren Risiken zu informieren.
UNI NOVA: Wir treffen täglich Entscheidungen, deren Folgen unsicher sind. Entscheiden würde also heissen, zwischen verschiedenen Risiken zu wählen?
RIESKAMP: Ja, das sieht man deutlich bei Gesundheitsfragen. So konnten viele Menschen zu Beginn das Risiko des Coronavirus nur schwer bewerten und einschätzen, was natürlich auch mit der einhergehenden Dynamik zusammenhängt. Und bei der Wahl eines Verkehrsmittels wissen viele Menschen nicht, wie gross die Unterschiede punkto Gefährlichkeit statistisch sind – wie riskant etwa Motorradfahren im Vergleich zum Autofahren ist und wiederum wie sicher man im Flugzeug sitzt. Menschen schätzen bestimmte Risiken und Gefahren unterschiedlich und nicht immer genau ein. Das Risiko von neuen und furchterregenden Gefahren wird häufig überschätzt, während das Risiko von Gefahren unterschätzt wird, mit denen wir schon lange umgehen und mit denen wir vertraut sind. Dabei stimmt die subjektive Wahrnehmung eines Risikos oft nicht mit der objektiven Gefahr überein.
UNI NOVA: Täuscht der Eindruck, dass der Mensch in Sachen Abschätzen von Risiko und Wahrscheinlichkeit nicht besonders gut ist?
RIESKAMP: Naja, die Wahrscheinlichkeitstheorie gehört zur Mathematik, die viele Menschen nicht besonders gut beherrschen. Deshalb fällt es Menschen in neuen Situationen häufig schwer, konkrete und genaue Wahrscheinlichkeitsschätzungen zu geben. Wenn jemand hingegen viel Erfahrung in einem Bereich gesammelt hat und als Expertin oder Experte gilt, können dessen Schätzungen sehr präzise sein. So gehen beispielsweise Meteorologen sehr gut mit Wahrscheinlichkeitsangaben bei Wetterprognosen um. Zur Kommunikation und zum besseren Verständnis von Wahrscheinlichkeiten ist es dann allerdings notwendig, die Referenzklasse genauer zu erklären, also die Klasse von Ereignissen oder Objekten, auf die sich die Wahrscheinlichkeit bezieht.
UNI NOVA: Verstehen Sie sich eher als Grundlagen- oder als anwendungsorientierter Forscher?
RIESKAMP: Als beides. Indem wir die kognitiven Prozesse beim Menschen untersuchen, die zu vielfältigen Entscheidungen führen, sind wir klar Grundlagenforscher. Doch das Schöne an dieser Wissenschaft ist, dass wir durch die Erklärung von Entscheidungen auch schnell deren praktische Relevanz und deren Anwendungsbezug herstellen können. Beispielsweise sollte man jemandem, der in seinem allgemeinen Verhalten sehr risikoscheu ist, abraten, sein ganzes Vermögen kurzfristig in Aktien anzulegen.
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