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Erinnern und Vergessen. (01/2021)

Riskante Operationen.

Text: Sabine Goldhahn

Nach chirurgischen Eingriffen können insbesondere bei älteren Menschen Gedächtnisstörungen auftreten. Eine Basler Arbeitsgruppe sucht Wege, den Symptomen vorzubeugen.

Eine Operation ist nie ganz risikofrei. Wenn jemand nach einem Eingriff verwirrt erscheint oder auch Wochen später vieles vergisst, sprechen Forschende allgemein von einer perioperativen neurokognitiven Störung. Doch soll man ihretwegen auf eine Operation verzichten? Die unten stehenden Antworten auf wichtige Fragen können bei der Entscheidung helfen.

Sind Gedächtnisstörungen nach einer chirurgischen Operation ein Grund zur Sorge?

Ja. Wenn nach einer Operation Gedächtnisstörungen auftreten, gilt das als Komplikation: eine Funktionsstörung des Gehirns. Man kennt sie auch unter dem Fachbegriff «postoperative kognitive Dysfunktion», kurz POCD. Diese muss man unterscheiden von einer anderen Funktionsstörung des Gehirns, die ebenfalls nach chirurgischen Eingriff en auftritt, dem «postoperativen Delir». Es ist oft schwerwiegender als eine POCD und führt im schlimmsten Fall zu bleibender Verwirrtheit, Unselbständigkeit bis hin zu einer erhöhten Sterblichkeit.

Wie äussern sich die Gedächtnisstörungen und wann treten sie auf?

Die Symptome ähneln einer milden Form der Alzheimer-Demenz und treten meistens innerhalb der ersten Wochen nach einem chirurgischen Eingriff auf, selten auch etwas später. Die Betroffenen vergessen vieles und haben Mühe, etwas Neues zu lernen. Angehörige berichten gelegentlich, dass ihre Verwandten nicht mehr dieselben seien. Die Symptome können sehr subtil sein und werden von den Betroffenen selbst oft gar nicht bemerkt.

Wie stellt man eine POCD fest?

Es gibt eine sehr hohe Dunkelziffer. Selbst für medizinische Fachpersonen ist die POCD nicht einfach zu erkennen und von altersbedingten Gedächtnisstörungen abzugrenzen. Dies gelingt nur mit speziellen Gedächtnistests aus der Alzheimer-Diagnostik. Damit diese aussagekräftig sind, muss der erste Test bereits vor der Operation stattgefunden haben. Er liefert die Ausgangswerte, anhand derer Fachpersonen später erkennen, ob die individuelle Gedächtnisleistung schlechter geworden ist.

Erfolgt die Abklärung einer POCD routinemässig?

Nein, das ist derzeit noch nicht möglich. Aktuell wird die Diagnose fast nur im Rahmen von Forschungsprojekten gestellt, so auch am Universitätsspital Basel. Hier und an der Memory Clinic des Felix Platter Spitals haben Forschende der Universität Basel eigens für eine schnellere Testung ihrer Patienten die App CogCheck für Tablets entwickelt. Sie enthält wichtige neurokognitive Tests, welche die Patientinnen ohne fremde Hilfe absolvieren können, etwa vor einer chirurgischen Operation. Die Ergebnisse werden den Daten vieler gesunder, gleichaltriger Menschen gegenübergestellt, die dasselbe Geschlecht und eine vergleichbare Schulbildung haben. Wenn das individuelle Testergebnis stark von der Norm abweicht, spricht das für eine bestehende kognitive Einschränkung.

Wie häufig und bei wem wird eine POCD beobachtet?

Dazu gibt es nur wenig genaue Zahlen. Bekannt ist, dass die POCD besonders oft bei älteren Menschen auftritt – bei Personen über 60 Jahren liegt die Wahrscheinlichkeit dafür etwa bei 40 Prozent – oder bei Patienten, die bereits vor dem Eingriff eine Demenz oder Einschränkung des Gedächtnisses hatten. Nur sehr selten entwickeln auch Jüngere eine POCD.

Gibt es Risikofaktoren?

Neben dem Alter oder vorbestehenden Gedächtnisstörungen spielen vor allem Ausmass und Art des operativen Eingriffs eine Rolle. So tritt eine POCD besonders häufig nach Operationen am offenen Herzen auf. Aber sie wurde auch schon nach Hüftoperationen oder anderen grösseren Eingriffen beschrieben. Nach aktuellen Kenntnissen spielen weder die verabreichten Narkosemittel eine Rolle noch die Art der Narkose.

Was sind die möglichen Ursachen?

Jede Operation bedeutet für den Körper eine Herausforderung und führt zu einer Stressreaktion des Immunsystems. Dabei werden Entzündungsprozesse in Gang gesetzt, die Nervenzellen direkt schädigen können. Ein genauer Mechanismus, welcher die perioperativen neurokognitiven Störungen hervorruft, ist derzeit jedoch noch nicht bekannt. Wahrscheinlich ist, dass mehrere Faktoren zur Entstehung einer POCD beitragen.

Wie wird eine POCD behandelt?

In der Regel verschwindet eine POCD nach rund einem Jahr von selbst. Bis dahin gibt es keine gezielte Behandlung, zum Beispiel in Form eines Medikaments. Empfehlenswert sind jedoch Massnahmen, die Körper und Geist aktivieren. Das Spektrum reicht hier von sozialen Kontakten, Sport und Gesellschaftsspielen bis hin zum Gedächtnistraining.

Wie hoch ist das Risiko, dass sich die kognitive Funktionsstörung nicht zurückbildet?

Dazu gibt es noch keine genauen Zahlen, aber es ist eher selten der Fall. Wenn die Symptome nach einem Jahr noch weiter bestehen, hatte die betroffene Person meistens schon vorher Gedächtnisstörungen – diese waren nur so unauffällig, dass sie erst nach der Operation erkannt werden. Narkoseärztinnen weisen daher in den Aufklärungsgesprächen extra darauf hin, dass sich eine unterschwellige Demenz demaskieren kann.

Kann man einer POCD vorbeugen?

Da unterschiedliche Risikofaktoren eine Rolle spielen, kann man eine POCD derzeit noch nicht völlig verhindern. Es gibt bisher kein vorbeugendes Medikament. Dennoch kann jeder und jede selbst etwas dafür tun, um allfällige negative Auswirkungen einer Operation möglichst klein zu halten. Dazu gehört, dass man die eigene körperliche Fitness und Gedächtnisleistung mehrere Monate vorher bewusst trainiert. Den positiven Effekt dieser «Prähabilitation» kennt man bereits aus der Krebstherapie. Die Erfolgsaussichten einer gezielten Präventionsstrategie für postoperative neurokognitive Störungen sind durchaus gut.

Klinische Studie

Mit einer klinischen Studie suchen die Anästhesisten Nicolai Göttel und Luzius Steiner vom Departement Klinische Forschung der Universität Basel derzeit nach einer Art strukturellem «Biomarker» für die postoperative neurokognitive Funktionsstörung des Gehirns. Die Idee dahinter: Bei Alzheimer schrumpft der Hippocampus – jene Region im Gehirn, in der Erinnerungen entstehen. Die Forschenden vermuten, dass der Hippocampus auch bei einer POCD kleiner wird. Diesen Verlust an Hirnvolumen wollen sie mithilfe der Magnetresonanztomografie (MRT) erfassen und den Ergebnissen von Gedächtnistests gegenüberstellen, die sie bei chirurgischen Patienten sowie gesunden Testpersonen erhoben haben. Die Studie soll helfen, den Wissensstand zur POCD zu verbessern und damit Therapien sowie vorbeugende Massnahmen zu entwickeln.


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