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Erinnern und Vergessen. (01/2021)

Schwere Schuld verjährt nicht.

Interview: Christoph Dieffenbacher

Der Faktor Zeit spielt eine wichtige Rolle, wenn Delikte verfolgt und bestraft werden. Fragen an den Strafrechtler Christopher Geth über Verjährung und Vergessen in der Justiz.

Christopher Geth
Prof. Dr. Christopher Geth. (Illustration: Studio Nippoldt)

UNI NOVA: Herr Geth, wer beim Velofahren durch den Park fährt, erhält eine Ordnungsbusse, die rasch verjährt und vergessen ist. Die Verjährungsfrist bei Mord liegt dagegen bei 30 Jahren. Gibt es im Recht verschiedene Zeitrechnungen?

CHRISTOPHER GETH: Tatsächlich ist die Zeit ein wesentlicher Faktor in einem Strafverfahren. Die Fristen für die Strafverfolgung orientieren sich im Wesentlichen an der Schwere einer Tat. Verjährung ist also abhängig vom Delikt und reicht von drei Jahren bei Übertretungen bis zur Unverjährbarkeit bei schwersten Straftaten wie Völkermord oder bei Sexualstraftaten an Kindern unter zwölf Jahren. Letztere führte die Schweiz nach einer Volksabstimmung 2008 ein, unter anderem, weil kindliche Opfer als besonders schutzbedürftig gelten. Für den Staat ist die Zeit essenziell, weil eine Tat nur innerhalb des im Gesetz festgelegten zeitlichen Rahmens verfolgt werden kann.

UNI NOVA: Warum ist eine Verjährung sinnvoll?

GETH: Damit wird zum Ausdruck gebracht, dass der Ausgleich von Schuld und Unrecht durch Strafe mit dem Ablauf der Zeit an Bedeutung verliert. Eine späte Bestrafung kann oft auch als unverhältnismässig erscheinen: Man nimmt an, dass die durch die Straftat verursachte Störung des Rechtsfriedens mit der Zeit abnimmt. Wenn Sie vor drei Jahren beschimpft wurden, wird Ihnen das heute eventuell egal sein. Ein zweiter Grund ist die Vermeidung von Justizirrtümern: Mit zunehmendem Zeitabstand gehen Details vergessen, und Beweise lassen sich immer weniger erbringen – sowohl belastende Beweise durch den Staat wie auch entlastende durch die Beschuldigten.

UNI NOVA: Vergessen ist aber nicht vergeben ...

GETH: … ja, das ist nicht dasselbe. Vergessen beschreibt einen psychischen Vorgang, Vergeben einen normativen im Sinn des Verzeihens. Das Strafrecht bedient sich zwar dieser Kategorien, arbeitet aber bei der Verjährung aus Gründen der Rechtssicherheit nicht mit einem tatsächlichen Vergessen oder Vergeben, sondern mit starren Fristen. Vergessen und Vergeben bilden den ideologischen Hintergrund der Verjährungsnormen – sie sind aber im Einzelfall nicht notwendig, um ein Verfahren wegen Verjährung einzustellen. So kann es für ein Opfer durchaus auch belastend sein, wenn eine Tat verjährt und von der Allgemeinheit durch den Zeitablauf als erledigt angesehen wird.

UNI NOVA: Ungeklärte Schwerverbrechen wühlen auf. In der Schweiz fordern Politiker, die Verjährung bei Mord ganz aufzuheben. Was halten Sie davon?

GETH: Es gibt immer wieder spektakuläre Tötungsdelikte, welche die Öffentlichkeit noch Jahrzehnte später bewegen. Denken Sie etwa an die bisher nicht aufgeklärte Tötung zweier junger Frauen im St. Galler Rheintal von 1982, bekannt als «Kristallhöhlenmord». Da diese Tat nach geltendem Recht verjährt ist, kann es keine Verurteilung mehr geben, selbst wenn neue Spuren auftauchen oder sich der oder die Täter stellen würden. Mich überzeugt dies aber nicht. Ich halte das Argument für wenig plausibel, wonach das Strafbedürfnis der Allgemeinheit bei schwersten Kapitalverbrechen wie Mord massgeblich schwinden würde. Für die Verjährung würden allein die zunehmenden Beweisprobleme sprechen, die heute allerdings durch die modernen Methoden der Kriminaltechnik relativiert werden. Auch wenn die Möglichkeiten eines DNA-Beweises begrenzt sind, spricht für mich mehr für die Aufhebung der Verjährung bei Mord. Entscheidend ist, dass die Gerichte den Beteiligten auch nach 30 Jahren einen fairen Prozess gewährleisten können.

UNI NOVA: Wie wird das Recht von einer Gesellschaft geprägt?

GETH: Das Strafrecht bewegt viele Menschen emotional und passt sich langfristig den herrschenden Vorstellungen an. Schuldzuweisungen und Missachtung Einzelner treten in der Gesellschaft aber durchaus auch losgelöst von rechtlichen Kategorien auf. Hier spielen rein moralische Bewertungsmuster mit, von denen sich das Recht jedoch nicht beeinflussen lassen darf.


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