Zellen «abtasten» für effizientere Krebsdiagnose.
Text: Samuel Schlaefli
Die Festigkeit von Tumorzellen gibt Hinweise darauf, wie sich ein Krebs entwickeln wird. Dies nutzt das Start-up «Artidis», indem es Gewebe von Brustkrebspatientinnen mit einem Rasterkraftmikroskop «abtastet». Derzeit läuft am Universitätsspital Basel eine Studie mit über 500 Patientinnen.
Brustkrebs ist die häufigste Krebsform bei Frauen. Alle zwei Minuten wird ein neuer Fall diagnostiziert und jährlich sterben weltweit über eine halbe Million Frauen daran. Bei einem Verdacht wird Patientinnen meist eine Biopsie des Brustgewebes entnommen. Die histologische Untersuchung ist jedoch aufwendig: Zuerst müssen millimeterdünne Gewebeschnitte hergestellt und eingefärbt werden, dann werden sie am Mikroskop qualitativ beurteilt. Bis zu fünf Spezialisten sind an der Analyse beteiligt und bis zum Ergebnis kann es zwei Wochen dauern.
«Diese Zeit der Ungewissheit ist für Patientinnen sehr belastend», erzählt Marija Plodinec, bis vor Kurzem Forschungsassistentin in der Gruppe von Professor Roderick Lim am Biozentrum der Universität Basel. «Wir wollten deshalb die Resultate schneller zu den Patientinnen bringen.» Die Gruppe Lim hat dafür in jahrelanger Forschung ein nanomechanisches Analyseverfahren für Zellgewebe entwickelt. «Damit können wir die Tumoranalyse weitgehend automatisieren und in nur drei Stunden bestimmen, ob ein Tumorgewebe gut- oder bösartig ist», so Plodinec. Derzeit wird das Verfahren am Universitätsspital Basel getestet und bald könnte es in Kliniken weltweit zur Anwendung kommen.
Rasterkraftmikroskopie für die Biologie
In einem kleinen Labor am Biozentrum gibt Plodinec Einblick in die potenzielle Zukunft der Krebsdiagnostik: Kernelement ist ein aufklappbarer, oranger Kasten in der Grösse eines Umzugskartons – ein Rasterkraftmikroskop. Damit lässt sich die Oberflächenstruktur von Materialien im Nanometerbereich analysieren. Solche Mikroskope findet man normalerweise in Chemie- oder Physiklabors, in der Biologie hingegen sind sie ein Kuriosum. Ein Doktorand bereitet neben der Maschine eine zwei Millimeter mal ein Zentimeter grosse Gewebeprobe zur Analyse vor, die kurz zuvor am Universitätsspital einer Patientin mit Verdacht auf Brustkrebs entnommen wurde.
Nachdem er die Messung angeworfen hat, beginnt im Kasten ein mikroskopisch kleiner Hebel (Cantilever) mit einer Metallspitze von lediglich 20 Nanometern Durchmesser das Brustgewebe abzutasten. Auf die Spitze wirkt dabei eine konstante Kraft von 1,8 Nanonewton. Ein Laserstrahl misst nun, wie stark sich der Cantilever beim Abtasten verbiegt. Nach 400 Messungen entlang eines vordefinierten Rasters erscheinen die Ergebnisse auf vier Bildschirmen neben dem Analysegerät: verschiedenfarbige und -förmige Kurven in einem x/y-Diagramm. Normales oder von einem gutartigen Tumor befallenes Gewebe ist fest und erzeugt deshalb eine steile Kurve mit einem einzelnen, charakteristischen Peak. Bei einem bösartigen Tumor hingegen ist das Gewebe heterogen und die Festigkeit geringer; die Kurve ist deutlich flacher.
Heute weiss man: Je weicher Krebszellen sind, desto einfacher können sie durch unterschiedliche Gewebe diffundieren, Metastasen bilden und den Körper angreifen. «Deshalb lässt sich anhand der Festigkeit von Brustgewebe abschätzen, wie hoch die Wahrscheinlichkeit ist, dass ein Krebs Metastasen bilden wird», erklärt Plodinec. Das sei entscheidend, denn über 90 Prozent der Todesfälle infolge Krebs gingen nicht auf den Tumor, sondern auf Metastasen zurück. «Doch nur wenige Krebszellen bilden tatsächlich Metastasen – und wir wollen herausfinden, welche.»
Klinisches Potenzial ausschöpfen
2012 stellte Plodinecs Team die Brustkrebsdiagnose-Plattform, bestehend aus einem adaptierten Rasterkraftmikroskop, einer ausgearbeiteten Analysemethodik und Software für die Datenauswertung, erstmals im Fachmagazin «Nature Nanotechnology» vor. Die Forscherin erkannte das klinische Potenzial des Systems sofort. «Doch die AFM-Technologie ist komplex, es braucht viel Know-how und Messungen dauerten manchmal über neun Stunden. Das ist für Spitäler nicht praktikabel.» Seither ist viel passiert: Marija Plodinec ist inzwischen CEO von «Artidis», einem Spin-off der Universität Basel, das die Technologie derzeit zur Marktreife weiterentwickelt. Bereits beschäftigt es zehn Mitarbeitende in einem Labor und drei Büros im Technologiepark im Stücki-Areal. Nach wie vor arbeitet «Artidis» eng mit dem Biozentrum der Universität Basel zusammen.
Aktuell findet die klinische Implementierung des ersten Prototyps statt: Spitäler in den USA, Deutschland, England, Kroatien und der Schweiz testen die Diagnostikplattform zu Forschungszwecken. Zudem läuft bis Ende 2018 am Universitätsspital Basel eine klinische Studie mit 508 Patientinnen. «Eine Weltpremiere», sagt Plodinec nicht ohne Stolz. Die Biopsieproben werden dafür sowohl mit dem «Artidis»-Rasterkraftmikroskop als auch histologisch analysiert und die Ergebnisse miteinander verglichen. Zusätzliches Biopsiematerial ist nicht nötig, denn die Gewebe bleiben durch die nanomechanische Abtastung unbeschadet. Die enge Kooperation ihrer Forschungsgruppe mit dem Universitätsspital Basel erachtet Plodinec als Glücksfall: «Wir hatten den grossen Vorteil, dass wir schon sehr früh erste Versuchsanordnungen in der Praxis testen konnten. Das Feedback der Ärzte war für die weitere Entwicklung unglaublich wertvoll.»
Brustkrebsdiagnostik ist nur der Anfang
Längerfristig will «Artidis» mit der nanomechanischen Analytik über die Brustkrebsdiagnostik hinausgehen. Gemeinsam mit Roche probt das Start-up derzeit den Einsatz des Rasterkraftmikroskops zur frühzeitigen Diagnose von altersbedingter Makuladegeneration, der häufigsten Ursache für Sehbehinderungen im Alter. Zudem soll die Technologie künftig nicht nur für die Diagnose, sondern auch zur Begleitung von Krebstherapien eingesetzt werden. Plodinec ist überzeugt, dass eine aussagekräftige quantitative Analytik die Erfolgschancen einer Therapie deutlich erhöhen kann sowie die Kosten in der Onkologie reduzieren würde. «Heute werden Patientinnen oft über- oder unterbehandelt», erzählt sie. «Chemotherapien werden in Fällen eingesetzt, wo sie gar nicht nötig wären – mit katastrophalen gesundheitlichen Nebeneffekten. Oder es wird zu spät damit begonnen – mit ebenso fatalen Folgen.»
Ob sich das mechanische Abtasten von Krebszellen in Spitälern durchsetzen wird, hängt nun unter anderem davon ab, ob Krankenkassen die Methode anerkennen und die Kosten dafür übernehmen – 200 Franken pro Messung für die Diagnose und 3300 Franken für die Therapieoptimierung. Und davon, ob die Studienergebnisse und die zweite Generation an Geräten, die 2019 auf den Markt kommen soll, Ärzte in Kliniken weltweit zu überzeugen vermögen.
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