Vom sauberen Banquier zum masslosen Banker
Geldwäscherei, Fehlspekulationen und Sexismus: Immer wieder sorgt die Finanzbranche mit Skandalen für Aufsehen. Die Geschlechterforscherin Anika Thym untersucht, wie Männer aus dem Finanzsektor diese Welt erleben und was wir aus ihren Selbstreflexionen lernen können.
04. Februar 2021
Frau Thym, Sie haben mit rund 20 Männern gesprochen, die in der Schweizer Finanzbranche Führungspositionen innehaben. Was wollten Sie dabei herausfinden?
Mich interessiert, wie und warum manche Personen in Machtpositionen kritisch über Macht nachdenken. Häufig wird davon ausgegangen, dass Kritik an Diskriminierung, Unrecht und Ausbeutung nur «von unten» kommt – also von jenen, die direkt darunter leiden. Eine Selbstkritik der Mächtigen wird eher selten ernst genommen. Mit meinem Projekt möchte ich zeigen, dass auch ihre Erfahrungen wichtig sind. Nur so können wir Dynamiken der Macht erkennen und gemeinsam Lösungen für Verbesserungen entwickeln.
Was macht den Finanzsektor so interessant für Fragen nach dem Umgang mit Macht?
In der Finanzbranche überschneiden sich zwei Machtbereiche: Geschlecht und Ökonomie. Vor allem der Börsenhandel und die Vermögensverwaltung sind finanziell sehr lukrativ und nach wie vor stark von Männern dominiert. Viele meiner Interviewpartner sprachen explizit von einer Männerwelt.
Wie nehmen die Kaderleute diese Männerwelt selbst wahr?
Als eine Welt, die von Wettbewerbsspielen bestimmt wird. Das Konkurrenzdenken ist teilweise so stark, dass bei einem Meeting zuerst eine Hierarchie etabliert werden muss, bevor sachlich diskutiert werden kann. Einige beschreiben eine bestimmte, dominante Männlichkeit, die rücksichtslos nach Profit strebt. Diese Männlichkeit erleben viele als Zwang. Manche der Befragten setzen sich deshalb bewusst für eine Förderung von Frauen in Führungspositionen ein. Sie sind der Meinung, dass mit Frauen am Verhandlungstisch eher langfristig und im Sinne des Unternehmens und der Angestellten entschieden wird.
Ist diese Kritik so uneigennützig oder gibt es auch eine persönliche Betroffenheit?
Viele kritisieren den beruflichen Druck und die hohe Arbeitslast. Die Folge sind gesundheitliche Probleme und soziale Abstriche. Die Männer leiden unter der Unvereinbarkeit von Beruf und Familie – teilweise sehen sie ihre Kinder unter der Woche nur noch schlafend. Sie beschreiben, dass Frau, Kinder oder Partner ihnen vorwerfen, nie anwesend zu sein. Nicht selten führten die unterschiedlichen Ansprüche und Verfügbarkeiten zu Konflikten oder einer Trennung.
Wo sehen denn die Chefs die positiven Seiten an ihrer Tätigkeit?
Die meisten Interviewpartner beschreiben vor allem zu Beginn ihrer Karriere eine grosse Leidenschaft für ihren Beruf. Sie kommen mit spannenden Kunden in Kontakt und gerade im Börsenhandel waren viele von der Geschwindigkeit und den Freiheiten, die sich die Banker herausnehmen, beeindruckt. Es herrschte das Gefühl, am Puls des Lebens und ständig auf der Überholspur zu sein. Kritik setzte meist erst später ein. Den Satz «Das ist nicht mehr meine Welt» habe ich oft gehört.
Was meinen sie damit?
Sie kritisieren den Wandel der Finanzbranche hin zu Investmentbanking, Eigenhandel, Zielvereinbarungen und Ausschüttungen von enormen Boni, der in den 1980er-Jahren begonnen hat. Viele meiner Interviewpartner fühlen sich in dieser neuen Arbeitskultur nicht mehr wohl. Sie beschreiben, wie sie ihre Kunden und Kundinnen nicht mehr in deren Interesse, sondern im Interesse der Bank beraten sollen und wie der Graubereich des Legalen ausgenutzt wird, um Profite zu machen.
Hatten Sie den Eindruck, dass die Kaderleute die Bedeutung und die Tragweite ihres Handelns reflektieren?
Viele haben nie genauer über die lokalen und globalen Verstrickungen der Finanzwirtschaft nachgedacht. Ein Interviewpartner erzählte aber beispielsweise eindrücklich, wie er durch einen ihm aufgetragenen Handel den Weltmarktpreis für Reis um ein paar Rappen in die Höhe trieb. Erst danach erfuhr er, dass sich deshalb tausende Menschen in Indien den Reis nicht mehr leisten konnten. Er hadert sehr mit seiner Mitschuld und beschloss daraufhin, diese Art Handel nicht mehr zu tätigen.
Die Affäre um den ehemaligen Raiffeisen-Chef Pierin Vincenz hat viel Aufsehen erregt. Wir wirken sich solche Skandale auf das Selbstbild der Banker aus?
In den letzten Jahrzehnten wurde aus dem sauberen Banquier der masslose Banker mit exorbitanten Boni. Dieses Wandels in der öffentlichen Wahrnehmung sind sich viele meiner Interviewpartner bewusst. Auch sie kritisieren den wachsenden Narzissmus, Egozentrismus und die Verantwortungslosigkeit gegenüber der Gesellschaft. Einige sind ausgestiegen oder haben in eine kleinere und sozialere Bank gewechselt. Andere versuchen die Kritiken zu ignorieren – wohl auch um ihren Job machen zu können.
Wo sehen Sie aufgrund dieser Selbstreflexionen die dringendsten Handlungsfelder in der Finanzindustrie?
In der Finanzbranche braucht es ein stärkeres Bewusstsein für den Ausschluss von Frauen und Aspekten, die mit Weiblichkeit assoziiert werden – wie Empathie, Verantwortung und Nachhaltigkeit. Für die Vereinbarkeit von Familie und Beruf müssen mehr Teilzeitstellen geschaffen werden. Und gesellschaftlich braucht es ein stärkeres Bewusstsein für die lokale und globale Rolle der Finanzbranche. Der Bergier-Bericht zum Umgang der Banken mit nachrichtenlosen Vermögen hat dazu einen wichtigen Beitrag geleistet, aktuell tut dies auch die Klimabewegung oder die Konzernverantwortungsinitiative. Es ist zentral, uns an das Unrecht zu erinnern, welches durch die Finanzbranche verantwortet wurde – nur so können wir es in Zukunft besser machen.
Anika Thym
Anika Thym ist Doktorandin an der Graduate School of Social Sciences G3S der Universität Basel. In ihrem Promotionsprojekt untersucht sie empirisch, wie Männer aus leitenden Funktionen im Finanzsektor (selbst)kritisch über ihre Arbeits- und Lebensweisen nachdenken. Grundlage sind zum einen fünf Autobiografien von Finanzmarktakteuren und zum anderen 23 Interviews mit männlichen Führungskräften aus international operierenden Schweizer Banken.