Der Unangreifbare.
Text: Irène Dietschi
Während der Pandemie hat Richard Neher die evolutionären Sprünge von Sars-CoV-2 eng verfolgt und für Medien kommentiert. Dabei liess er sich weder zu politischen noch zu emotionalen Aussagen hinreissen – und machte sich damit gegen Angriffe immun.
War das Coronavirus Sars-CoV-2 für den Biophysiker Richard Neher ein Glücksfall? Der 42-jährige Deutsche lacht, und sein Lachen hinter der FFP2-Maske hallt ein wenig im sonnendurchfluteten Eckbüro des brandneuen Biozentrums. Die Aussicht vom achten Stock auf die Stadt Basel ist grandios, noch riecht es hier nach Neubau. Entspannt sitzt Neher am Tisch, die Atmosphäre des funktionalen Raums mit den klaren Linien sichtlich geniessend. Am Garderobenständer fallen leuchtende Velo-Klamotten ins Auge.
«Das war natürlich zweischneidig», antwortet der Forscher schliesslich. «Klar, unsere Expertise war gefragt, wir waren zu Beginn der Pandemie mit Nextstrain sehr gut positioniert, um Corona zu studieren und die Entwicklung des Virus zu verfolgen.» Nextstrain ist eine Web-Plattform, auf der sich die Mutationen und Übertragungsketten von SARS-CoV-2 in Echtzeit beobachten lassen. Neher hatte das Programm zusammen mit Trevor Bedford aus Seattle vor Jahren entwickelt und dann, als Corona kam, zum Fliegen gebracht – zusammen mit seiner ehemaligen Mitarbeiterin Emma Hodcroft, die inzwischen an die Universität Bern gewechselt hat, und den Kollegen in Seattle.
Corona habe ihm und seinem Team viel Sichtbarkeit beschert – «und das wünscht man sich ja als Wissenschaftler», sagt er. Andererseits habe das Virus zwei Jahre lang diktiert, womit er und seine Mitarbeitenden sich zu beschäftigen hatten. Manchmal habe er das Gefühl gehabt, jemand habe ihm das Zepter aus der Hand genommen.
Expertise statt Spekulationen
Richard Neher ist Biophysiker und auf die Evolution von Bakterien und Viren spezialisiert. Bis Anfang 2020 studierte er solche Gesetzmässigkeiten anhand von HI- und Grippe-Viren, dann kam Corona. Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs – es ist der 18. Januar 2022 – arbeiten er und sein fünfköpfiges Team gerade an Software-Tools, «um den Besonderheiten der Omikron-Genome gerecht zu werden». Die zahlreichen Mutationen der Variante geben den Forschenden noch immer Rätsel auf.
Seit Beginn der Pandemie war Neher Mitglied der wissenschaftlichen Covid-Taskforce des Bundes. Den Austausch mit Kolleginnen und Kollegen aus anderen wissenschaftlichen Fächern fand er bereichernd und spannend. Allgemeineren Diskussionen etwa um Corona-Massnahmen jedoch ging er aus dem Weg. «Ich habe mich bemüht, mein Engagement auf das zu konzentrieren, wo ich meine Kernexpertise sehe», sagt er. Es sei zwar wichtig, sich zu äussern, aber: «Ich bin kein Freund der öffentlichen Exposition.» Zu gross sei das Risiko, dass man falsch zitiert werde oder in eine Rolle gedrängt, die man nicht gesucht habe.
Nehers Zurückhaltung bekamen auch die Medien zu spüren. Während andere Taskforce-Mitglieder sich bisweilen zu politischen Einschätzungen hinreissen liessen, hielt er sich strikt an die «technische Beratung». Lieber schwieg er, als sich politisch angreifbar zu machen. So erwarb sich Neher etwa unter Wissenschaftsjournalisten den Ruf des überaus scharfsinnigen, gleichzeitig fast überkorrekten Experten, dem jenseits des Faktischen nichts zu entlocken war. Keine Spekulationen, nichts Persönliches, Emotionen schon gar nicht.
Konfrontiert mit dieser Darstellung, lacht Richard Neher herzlich und entspannt sich noch mehr auf seinem Stuhl. Allmählich dämmert es mir: Da ist einer nebst seinem wissenschaftlichen Können einfach ziemlich gut darin, seine Aussenwirkung zu steuern – und sich klammheimlich darüber zu freuen. Nicht jeder muss ja wissen, dass er zum Beispiel auch eine abenteuerliche Seite hat; dass er in jüngeren Jahren wochenlang durch Südamerika reiste oder dass er – wenn er denn mal Zeit hat – gerne Ski und Kajak fährt.
Und die Rennvelo-Klamotten an der Garderobe, sind das seine? «Ja klar», sagt der Forscher. Radfahren sei etwas, das sein voller Terminkalender gerade noch zulasse. Die Betreuung der Forschungsgruppe, das macht er klar, hat Priorität.
Der lange Schatten der Eltern
Was in der Öffentlichkeit ebenfalls kaum bekannt ist: Richard Neher stammt aus einer berühmten Wissenschaftler-Familie. Sein Vater ist der deutsche Biophysiker Erwin Neher, der 1991 den Nobelpreis für Medizin erhielt. Zusammen mit Bert Sakman hatte er eine Methode entdeckt, mit der sich Ionenkanäle in Zellmembranen direkt nachweisen lassen. Auch seine Mutter Eva-Maria Neher ist, zumindest in Deutschland, eine bekannte Wissenschaftlerin: Die Biochemikerin gründete Mitte der 1990er-Jahre in Göttingen ein «Experimentallabor für junge Leute», für das sie zahlreiche Auszeichnungen erhalten hat, darunter das Verdienstkreuz der Bundesrepublik Deutschland.
Richard Neher hat zwei Schwestern und zwei Brüder, er selbst ist der Älteste. «Meine Geschwister und ich sind damit aufgewachsen, dass Wissenschaft etwas ‹Normales› ist», erzählt er. «Schon zu Grundschulzeiten hatten wir zu Hause Mikroskope rumstehen und bekamen von unseren Eltern gezeigt, was im Teichwasser wächst. Oder wir widmeten uns mit grosser Experimentierfreude irgendwelchen Baukästen oder Fotovoltaik-Geschichten.»
Sein Elternhaus habe den wissenschaftlichen Karriereweg quasi organisch vorgezeichnet. Allerdings hatte dies auch seine Kehrseite. «Man möchte ja dem Schatten der Eltern entkommen», sagt er. Deswegen habe er zu Beginn seiner Laufbahn die Biologie – das Terrain seines Vaters – «bewusst gemieden» und stattdessen Mathematik und Physik studiert. Er interessierte sich für die grossen theoretischen Fragen – was die Welt im Innern zusammenhält.
Zeit für neue Forschung
Erst während seines Postdoc-Studiums in Santa Barbara, Kalifornien, entdeckte er für sich die Evolutionsbiologie. 2017 wurde Richard Neher Associate Professor am Biozentrum der Universität in Basel. Er fühlt sich «angekommen» in der Stadt – privat mit seiner Partnerin, und in der Wissenschaft sowieso: «Das Biozentrum ist ein ausgesprochen attraktives Forschungsumfeld mit fantastischen Rahmenbedingungen: viel Freiheit, viel Diversity, viel Stimulation von Kolleginnen und Kollegen aus anderen Disziplinen», sagt er. Auch die Nähe des Universitätsspitals sei vorteilhaft oder dass bald die ETH Zürich mit ihrem Departement für Biosysteme auf den Campus ziehe.
Doch wie geht es mit seiner Forschungsgruppe weiter, jetzt, wo Corona in die endemische Phase übergegangen ist? Neher zuckt die Schultern und sagt, er werde sich etwas Neues ausdenken – nicht, weil das Virus endemisch geworden ist, sondern weil «Hunderte Gruppen auf der ganzen Welt sich auf das Thema gestürzt haben und das Ganze eine Routinearbeit wird». Er müsse sich nicht mit dem beschäftigen, was so viele andere auch machen. Ein neues Thema zu finden, bereitet ihm keine Sorgen – Hauptsache, es ist originelle, kreative Forschung. In der Biologie gebe es tausend offene Fragen. «Und mit jeder Antwort tauchen zig neue auf.» Für Richard Neher ist es Zeit, das Zepter wieder in die Hand zu nehmen.
Richard Neher, 1979 in Göttingen geboren, studierte Physik und Mathematik in Göttingen und München. Während seines Postdoc-Studiums in Kalifornien begann er sich für evolutionsbiologische Fragen zu interessieren. 2010 wechselte er ans Max-Planck-Institut für Entwicklungsbiologie in Tübingen. Seit 2017 ist Richard Neher Associate Professor am Biozentrum der Universität Basel.
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