Auf der Flucht im eigenen Land
Die angespannte Lage in der Ostukraine schürt Ängste vor einer erneuten Eskalation eines Konflikts, der seit 2014 zwei Millionen Menschen zur Flucht gezwungen hat. Was diese Vertreibung für die einzelnen Menschen und die ukrainische Gesellschaft bedeutet, untersucht die Soziologin Prof. Dr. Viktoria Sereda. Sie ist zurzeit Gastforscherin an der Universität Basel.
29. April 2021
Frau Sereda, Krieg und Gewalt bringen Menschen dazu, ihre Heimat zu verlassen. Wie haben sich die bewaffneten Auseinandersetzungen in der Ukraine ausgewirkt?
Der Konflikt um die Krim und den ukrainischen Donbass hat insgesamt rund zwei Millionen Personen aus ihrer Heimat vertrieben, die sich in der Ukraine oder in anderen Ländern niedergelassen haben. Damit gehörte die Ukraine im letzten Jahrzehnt zu den zehn Ländern weltweit mit den meisten Binnenflüchtlingen und Flüchtlingen. In den Flüchtlingsdebatten der westlichen Länder, die die Medien beherrschen, kommen Binnenflüchtlinge – also die im eigenen Land Vertriebenen – aber praktisch nicht vor.
Warum ist diese Fluchtbewegung so unbeachtet geblieben?
Wenn es um Geflüchtete geht, beherrscht die Sorge um die Integrität des eigenen Landes die Debatte in den europäischen Ländern und den USA. Aber die Vertriebenen im Ukraine-Konflikt sind grösstenteils im eigenen Land geblieben.
Wie ist die ukrainische Gesellschaft damit umgegangen?
Das Land war nicht auf den Krieg und diesen internen Flüchtlingsstrom vorbereitet, aber die grosse gesellschaftliche Solidarität mit den Binnenflüchtlingen hat sehr geholfen, sie mit dem Notwendigen zu versorgen. Sie haben die Chance auf einen Neuanfang bekommen und konnten Positives daraus schöpfen. Man muss aber wissen, dass die Geflohenen oftmals jemanden – meist ältere Verwandte – zurücklassen mussten, die das Eigentum der Familie vor Plünderung und Enteignung schützen sollten. Die in der Heimat Verbliebenen sind seit Beginn der Pandemie in grösserer Bedrängnis.
Wie hat die Pandemie die Situation in den umkämpften Regionen verändert?
Zwischen der Ukraine und den selbsterklärten Volksrepubliken Donezk und Luhansk, die unter einem russisch-kontrollierten illegitimen Militärregime funktionieren, lag zuvor eine der porösesten Grenzen in Europa: Jeden Monat bewegten sich eineinhalb Millionen Menschen zwischen diesen Gebieten. Zu Beginn der Pandemie wurden diese Grenzen zwei Monate lang komplett geschlossen, und auch heute ist es nur unter strikten Auflagen möglich, sie zu überschreiten.
Welche Konsequenzen hat das für die Bevölkerung?
Die Einwohner von Donezk und Luhansk sind dadurch von wichtigen Ressourcen abgeschnitten, beispielsweise von ihren finanziellen Mitteln, weil sie ihre ukrainische Pension nur auf ukrainischem Territorium abholen können. Die Banken in ihrer Region sind ja nicht mehr ukrainisch. Auch können sie nicht mehr auf die medizinische Versorgung auf der anderen Seite der Grenze zugreifen. Umgekehrt können diejenigen, die aus der Ostukraine geflohen sind, ihre dort verbliebenen Verwandten nicht mehr ohne Weiteres besuchen, um sie zu unterstützen, weil sie dann aufgrund von Quarantänebestimmungen festsässen. Da findet eine humanitäre Krise mitten in Europa statt, die kaum Beachtung erhält. Einige NGOs sind vor Ort, wie beispielsweise das Rote Kreuz, aber es dringen sehr wenige Informationen über die Situation in diesen Regionen nach aussen.
Welchen Bezug nehmen Sie in Ihrer Forschung auf den Ukraine-Konflikt?
Mein Fokus liegt darauf, die Situation der Binnenflüchtlinge seit 2014 nachzuvollziehen. Geflüchtete werden oft recht eindimensional als Opfer betrachtet, dabei kann die Fluchtgeschichte auch ermächtigend sein, neue Chancen eröffnen und ein Ansporn sein, im Neuanfang das eigene Schicksal in die Hand zu nehmen. Mich interessiert auch, wie der Konflikt und die Integration der Geflüchteten die ukrainische Gesellschaft und ihr Selbstverständnis geprägt hat. In der öffentlichen Debatte werden Geflüchtete oft als separate Gruppe betrachtet, dabei geht es in diesen Diskussionen eigentlich immer um die Gesellschaft als Ganzes und ihre Identität.
Sie selbst stammen aus der Ukraine, sind aber aufgrund Ihrer Forschung sehr mobil und ziehen von Land zu Land. Wie prägt Sie diese Erfahrung?
Die meisten Forschenden aus der Ukraine müssen international mobil sein, um überhaupt auf dem neuesten Stand der Fachliteratur zu bleiben. In der Ukraine selbst ist der Zugang dazu sehr schwierig. Darüber hinaus sind westliche Forschungszentren sehr innovativ und bieten neue räumliche und digitale Instrumente mit einer Vielzahl von Funktionen und Anwendungsbereichen an. Die Erfahrungen, die ich mit Integrationsangeboten an den verschiedenen neuen Orten mache, nutze ich auch direkt in meiner Lehre, um den Studierenden zu zeigen, wie nah dieses Thema beispielsweise auch in der Schweiz ist. Die Mobilität erlaubt es mir aber auch, das Augenmerk der internationalen Forschungsgemeinschaft mehr auf die zwei Millionen Menschen zu lenken, die da unter den Augen Europas aus ihrer Heimat vertrieben wurden und doch so lange unbeachtet geblieben sind.
Prof. Dr. Viktoria Sereda forscht und lehrt im Frühjahrssemester 2021 als Stipendiatin der URIS (Ukrainian Research in Switzerland) an der Universität Basel. Ihre Forschung an der Schnittstelle zwischen Alltagssoziologie und Identitätsgeschichte beruht auf Interviews mit ukrainischen Binnenflüchtlingen. In einer Lehrveranstaltung Migration and Belonging möchte sie die Studierenden anhand von Fallbeispielen zu Diskussionen über Zugehörigkeit, Multikulturalismus und Integration anregen.