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«Das Problem ist die Abwertung von Arbeit»

Bild eines Velokuriers bei der Arbeit.
Velokuriere nutzen für ihre Arbeit Apps auf dem Smartphone. Über dieselben Apps kontrollieren die Lieferplattformen auch ihre Beschäftigten. (Bild: Adobe Stock)

Algorithmen sind in der Arbeitswelt angekommen. Oft hängen sie dabei mit Automatisierung und Stellenabbau zusammen. Für sein Buch «Technopolitik von unten» hat Dr. Simon Schaupp hinter die Kulissen manueller Arbeit geblickt und berichtet im Interview von gegensätzlichen Tendenzen.

27. Januar 2022

Bild eines Velokuriers bei der Arbeit.
Velokuriere nutzen für ihre Arbeit Apps auf dem Smartphone. Über dieselben Apps kontrollieren die Lieferplattformen auch ihre Beschäftigten. (Bild: Adobe Stock)

Herr Schaupp, Sie waren für die Recherchen zu ihrem Buch unter anderem als Velokurier unterwegs. Was war Ihr Ziel?

Es gibt in der Arbeitssoziologie sehr viele Studien darüber, welche digitalen Technologien Arbeitsprozesse verändern und was sie bewirken sollen. Dabei ist es auch eine Grundeinsicht der Techniksoziologie, dass Technologien selten bis nie so eingesetzt werden, wie ursprünglich gedacht. Ich wollte am Arbeitsalltag derjenigen teilnehmen, die diese Technologien unmittelbar verwenden, und so die tatsächliche Anwendung selbst erleben. Interviews oder Umfragen reichen für einen umfassenden Einblick nicht aus. Dabei habe ich mich speziell dem Bereich der Kontrolltechnologien und der algorithmischen Arbeitskontrolle gewidmet.

Was kann man sich darunter vorstellen?

Unter algorithmischer Arbeitssteuerung versteht man Anweisungen und Kontrollmechanismen von Computersystemen und Software, die auf eine Tätigkeit bezogen sind. Zum Beispiel erfassen diese Systeme bei Velokurieren die Zeit, die sie brauchen, um von A nach B zu kommen. Sie werten diese Daten aus und melden die Ergebnisse den Beschäftigten zurück. Bei guter Leistung kann das Lob sein, bei schlechter Leistung eine Aufforderung, schneller zu fahren. Ziel ist, dass sich die Beschäftigten verbessern und zum Beispiel weniger Zeit für dieselbe Strecke benötigen. Das kann man als feedbackbasierte Selbstoptimierung bezeichnen.

Porträt von Dr. Simon Schaupp
Dr. Simon Schaupp (Foto: Universität Basel)

Wie nehmen die Beschäftigten diese neue Form der Arbeitssteuerung auf?

In allen Betrieben, in denen ich geforscht habe, versuchen die Beschäftigten, die Kontrolltechnologien zu umgehen oder sie auszutricksen. Beispielsweise nutzen Velokuriere für ihre Arbeit Smartphones, über deren GPS-Signal sie jedoch leicht zu überwachen sind. Um diese Kontrolle zu umgehen, manipulieren sie ihren Standort per Software. Ein anderes Beispiel ist ein Industrieunternehmen, das die Funktion ihrer Teamleiter durch ein digitales Arbeitsleitsystem ersetzt hat. Dieses misst zwar die Arbeitsgeschwindigkeit, erfasst jedoch keine Gespräche zwischen den Mitarbeitenden oder die Länge der Pausen. In der Folge kommt es sogar zu mehr Gesprächen als zuvor. Solche kleinen Akte des Ungehorsams und der Solidarität können dann zur Grundlage von kollektivem Widerstand werden.

Sehen Beschäftigte auch Vorteile in diesen Technologien?

Viele Velokuriere erzählen, dass sie es als angenehm empfinden, die Anweisungen auf ihrem Smartphone von einem Algorithmus zu erhalten. Ihre Vorgesetzten haben die meisten Kuriere noch nie gesehen. Der Kontakt beschränkt sich auf Chat-Apps, in denen sie oft launisch und wenig transparent wirken. Durch den Algorithmus haben viele Kuriere das Gefühl, gleich behandelt zu werden wie die anderen Kuriere. Ein anderes Beispiel sind Industrieunternehmen, in denen Algorithmen Arbeitsschritte kleinteilig beschreiben und dadurch hilfreich für diejenigen Beschäftigten sein können, die sich überfordert fühlen. So reduzieren sie die Komplexität von Aufgaben.

Wie verändern diese Technologien die Arbeitswelt?

Besonders drastisch konnte ich die Folgen bei einem Maschinenbauunternehmen beobachten. Vor der Einführung algorithmischer Systeme beschäftigte die Firma hoch qualifizierte Facharbeiterinnen und -arbeiter. Weil die neuen Systeme sehr detaillierte Anweisungen geben und dadurch den Arbeitsprozess vereinfachen, kann das Unternehmen die Aufgaben an weniger qualifiziertes und entsprechend günstigeres Personal vergeben. Dieses Vorgehen kann man als Abwertung von Arbeit beschreiben. Hinzu kommt der Effekt der Arbeitsverdichtung: Durch die immer kleinteiligeren Arbeitsschritte können die Systeme viel genauer aufzeichnen, wie viel Zeit für eine Aufgabe benötigt wird. Liegt die eigene Zeit unter dem Durchschnitt, erhalten Beschäftigte ein entsprechendes Feedback, meistens mit der Aufforderung, die Arbeit zu beschleunigen oder Tipps, wie sie sich verbessern können.

Oft wird suggeriert, dass Technologien den Menschen unterstützen sollen. Was Sie beschreiben klingt aber eher so, als würden sie aus Menschen Maschinen machen…

Im derzeitigen wissenschaftlichen und medialen Diskurs springen wir beim Thema Digitalisierung oft auf einen Automatisierungshype auf. Viele Studien zur manuellen Arbeit und Einfacharbeit (siehe Box unten) fragen ausschliesslich danach, was technisch möglich ist. Die tatsächliche Anwendung ordnen sie dem unter. Die eigentlichen Fragen, die über die Einführung einer Technologie in einem Unternehmen entscheiden, lauten jedoch: Lohnt sich das? Lassen sich damit Kosten senken? Bei den Automatisierungstechnologien, insbesondere bei teurer Robotik, ist das oft nicht der Fall, weil zu viel günstige Arbeitskraft zur Verfügung steht. Ökonomisch gesehen ist das eine wirklich attraktive Alternative zur Automatisierung.

Müssen wir also keine Angst habe, dass Maschinen uns ersetzen?

Ich gehe nicht davon aus, dass es zu einer Verdrängung von einfachen Arbeiten und Routinearbeit kommt, wie Kuriere oder Arbeiten am Fliessband. Vielmehr sehe ich eine zunehmende Integration von Arbeitskraft in digitalisierte Arbeitsprozesse. Das heisst, die Tätigkeiten, die mit der Digitalisierung einhergehen, sind von einem grossen Anteil an menschlicher Arbeitskraft gekennzeichnet. Oft fallen die Tätigkeiten aufgrund der erwähnten Abwertung von Arbeit prekär aus. Eine Arbeitslosigkeit aufgrund von Technologie sollte daher nicht das Problem sein. Ich spreche hier von einer Kybernetischen Proletarisierung.

Welchen Einfluss hat die derzeitige Pandemie auf die Technologisierung der Arbeitswelt?

Aufgrund des gebotenen Social Distancings haben wir unser Bestellverhalten verändert. Dadurch ist das Bestellvolumen gestiegen und es braucht mehr Kuriere. Entsprechend sind mehr Beschäftigte in diesem Sektor tätig und folglich von algorithmischer Arbeitskontrolle betroffen. In der Büroarbeit hingegen können wir eine zunehmende Technologisierung beobachten. Durch die gestiegene digitale Kommunikation zeichnen Kommunikationsunternehmen Metadaten in grossem Stil auf und werten sie aus. In Europa sind wir durch die Datenschutzverordnung weitgehend vor einer individuellen Leistungskontrolle auf Grundlage dieser Daten geschützt, in den USA hingegen wird viel damit experimentiert.

Worauf müssen wir uns in Zukunft einstellen?

In einem negativen Szenario haben wir es mit einer weiter zunehmenden Abwertung von Arbeit zu tun, die zusammen mit wachsenden Lohnunterschieden zu einer weiteren gesellschaftlichen Spaltung beiträgt. Andererseits könnten ein verantwortungsvoller Technologieeinsatz und entsprechende Regularien Arbeitspensen reduzieren. Höhere Produktivität könnte beispielsweise zu mehr Urlaubstagen oder weniger Arbeitsstunden pro Woche führen. Meine Hoffnung ist es, dass man versucht, Technologie für eine humanere Arbeit einzusetzen und eben nicht dafür, alles immer weiter zu beschleunigen.

Wovon hängt ab, welches dieser Szenarien eintritt?

In erster Linie von den Lohnkosten. Sie sind die Grundlage der beschriebenen Prekarisierung von Arbeit und sollten insbesondere in unteren Lohngruppen angehoben werden. Neben dem Lohn ist jedoch auch der Umgang mit der kontinuierlichen Beschleunigung wichtig: Beschäftigte und Unternehmen müssen sich vermehrt für eine Steigerung der Arbeitsqualität und eine Entschleunigung von Arbeit einsetzen. Hierfür ist es essentiell, dass Algorithmen nicht als gegeben und unpolitisch angesehen werden. Vielmehr müssen sie politisch und gesellschaftlich diskutiert und ausgehandelt werden. Nur so können wir Einfluss auf die Zukunft von Arbeit nehmen.

Einfacharbeit: Für Tätigkeiten im Bereich der Einfacharbeit sind weder eine Ausbildung noch Fachkenntnisse erforderlich. Beschäftigte führen oft kleinteilig strukturierte und routinierte Aufgaben aus, die keine Autonomie erlauben. Einfacharbeit ist häufig in den Bereichen Reinigung, Logistik und Produktion anzutreffen.

Zum Buch

In «Technopolitik von unten» wirft Simon Schaupp einen Blick hinter die glänzenden Oberflächen der smarten neuen Arbeitswelt. Im Zentrum stehen die Beschäftigten: Mit welchen Strategien reagieren sie auf die zunehmende Polarisierung der Arbeitswelt?

Schaupp hat mit Managerinnen und Managern sowie Arbeiterinnen und Arbeitern gesprochen und selbst als Kurier und in der Elektroindustrie gearbeitet. Sein Buch fordert dazu auf, unser Bild der Digitalisierung zu überdenken.

Simon Schaupp: Technopolitik von unten. Algorithmische Arbeitssteuerung und kybernetische Proletarisierung. Matthes & Seitz, Berlin 2021 (352 Seiten).

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