«Das Anekdotische ist nicht so harmlos, wie es daherkommt.»
Am kommenden Wochenende finden die eidgenössischen Wahlen statt. Wer kann die Wahlbevölkerung am besten mobilisieren? Die Anekdote ist dafür ein beliebtes Mittel. Die Literaturwissenschaftlerin Lea Liese forscht zu diesen kleinen Erzählungen in der Politik. Was meist harmlos wirkt, hat eine grosse Sprengkraft, sagt sie.
18. Oktober 2023 | Noëmi Kern
Frau Liese, wir alle mögen kleine Geschichten. Ist das das Erfolgsrezept von Anekdoten in der Politik?
Ja, ich denke schon. Das Anekdotische galt historisch zuerst nicht als literarische Gattung, sondern als niedrigschwellige Form der Wissensvermittlung. Dieses «soziale» Wissen stiftet Gemeinschaft und dadurch entsteht ein Gefühl von Sicherheit und Handlungsfähigkeit. Das Anekdotische hilft uns, weiter zu reden, auch wenn wir die Faktenlage nicht genau kennen. Wenn man zum Beispiel beklagt, dass alles immer teurer wird, kann vermutlich jede und jeder eine persönliche Erfahrung oder zumindest eine kleine Geschichte vom Hörensagen beisteuern. Das auszunutzen, ist für Politikerinnen und Politiker reizvoll. Sie müssen nur etwas anstossen und dann läuft der Diskurs beinahe von alleine.
Haben Anekdoten in Wahlkampfzeiten Hochkonjunktur?
Das Anekdotische eignet sich gut, um die Wählerschaft zu mobilisieren. Das hat viel mit Aufmerksamkeitsökonomie zu tun: Die Parteien stehen in Konkurrenz zueinander und müssen in kurzer Zeit Wählerinnen und Wähler abgreifen.
Ausserdem ist es ziemlich einfach, mithilfe von anekdotischen Evidenzen im Sinne von «gefühlten» Wahrheiten allfällige Lücken im eigenen Programm zu überbrücken. Hierin zeigt sich das populistische Potenzial von Anekdoten. Insbesondere in Wahlkampfzeiten kann der strategische Einsatz von kleinen, vermeintlich wahren Geschichten zur Verbreitung von Desinformation und Fake News beitragen.
Wenn Sie vom populistischen Potenzial sprechen: Bedienen sich rechte Parteien häufiger Anekdoten als linke?
Es gibt wohl keinen Politiker, keine Politikerin, die nicht schon versucht hat, mit einer persönlichen Anekdote Nahbarkeit herzustellen. Ich glaube jedoch, dass das Potenzial, damit Missbrauch zu betreiben, bei rechtsgerichteten Parteien höher ist. Ich habe für einen Aufsatz recherchiert, wie eng anekdotische Erzählungen und Verschwörungstheorien zusammenhängen, und dafür Plenarreden im deutschen Bundestag angeschaut, vor allem von der AfD. Mir ist aufgefallen, dass die Nähe zwischen verschwörungstheoretischem Denken und Anekdoten, die erzählt werden, sehr gross ist. Wichtig ist, ob diese «Geschichten vom Hörensagen» strategisch eingesetzt werden. Das sieht man an den Wiederholungeffekten: Manche Akteure und Akteurinnen bringen die gleichen Geschichten immer wieder.
Da kann man sich fragen, ob etwas wirklich so häufig geschieht, wie es erzählt wird. Auch bestimmte Stereotype tauchen immer wieder auf, zum Beispiel die arme Seniorin, die ihre Heizrechnung nicht mehr bezahlen kann. Historisch galt die Anekdote übrigens lange als Gegengeschichte und war eine Form, der offiziellen Darstellung zu widersprechen. Deswegen kann das Anekdotische auch als Guerillataktik beschrieben werden. Dieser vermeintlich subversive Charakter der Anekdote ist sehr beliebt bei rechtspopulistischen Parteien. Sie schmücken sich oft damit, dass sie «sagen, wie es wirklich ist».
Sie schreiben der Anekdote politische Sprengkraft zu. Was meinen Sie damit?
Ich glaube, die grösste politische Sprengkraft liegt darin, dass Anekdoten nicht leicht als politisches Propagandamittel zu erkennen sind. Mit kleinen Geschichten verbinden wir zuerst etwas Harmloses, Positives, Inklusives. Hinzu kommt die erwähnte Anschlusskommunikation. Man kann mitreden und muss dafür weder die Faktenlage genau kennen, noch beweisen, dass sich etwas wirklich so zugetragen hat. Anekdoten funktionieren natürlich auch gut in den Medien. Sie sind kurz und knapp formuliert, arbeiten mit geglätteten Plots und Stereotypen. Das macht es sehr schwierig zu erkennen, was das Gegenüber wirklich beabsichtigt. Die Person, die strategisch eine anekdotische Evidenz ins Feld führt wie «mein Neffe wird an der Universität gezwungen zu gendern» kann abwarten, was passiert, wenn der Diskurs eröffnet ist. Daraus kann dann etwas werden wie «Wenn das alle sagen, muss es ja stimmen».
Beinhaltet die Anekdote entsprechend den Aspekt einer self-fulfilling prophecy?
Ich würde die These unterstützen, dass sich durch einen immer wieder angeheizten Diskurs die Wahrnehmung verändert und sich dadurch etwas bestätigen kann, das gar kein empirischer Fakt ist.
Wenn ich etwas immer wieder höre, bin ich selber auch auf der Hut. Und ich habe das Gefühl, ich muss mich zum Gehörten verhalten und damit umgehen. Viele Menschen sind mit den multiplen Krisen unserer Zeit überfordert. Anekdoten hingegen vereinfachen komplexe Probleme und geben eine klare Handlungsanweisung.
Wie gelingt es, dass man anekdotische Evidenz nicht mit Fakten verwechselt?
Wenn ein Politiker, eine Politikerin eine Anekdote erzählt, wäre ich erst mal skeptisch und würde genau hinschauen, ob sich gewisse Muster wiederholen, zum Beispiel Feindbilder und Stereotype, und welche Debatten auf diese Weise mutmasslich angestossen werden sollen. Die politische Kontextualisierung ist also wichtig; anekdotische Evidenzen entstehen nicht im luftleeren Raum. Ich finde es ausserdem wichtig, sich bewusst zu machen, dass das Anekdotische nicht so harmlos ist, wie es daherkommt. Es ist auch nicht so inklusiv wie angenommen, denn es gibt immer Personen, die eben nicht mitreden können, sondern über die geredet wird.
Originalpublikation
Lea Liese
Mediologie der Anekdote. Politisches Erzählen zwischen Romantik und Restauration (Kleist, Arnim, Brentano, Müller)
De Gruyter (2023), doi: 10.1515/9783111017464