Kartografie Russlands: Ein Imperium, gross wie der Mond
Das Zarenreich umfasste ein Sechstel der Erdoberfläche. Die Vermessung dieses schier unendlichen Territoriums steht im Zentrum einer Dissertation am Departement Geschichte der Universität Basel. Geistes- und Naturwissenschaften gehen in diesem Projekt Hand in Hand.
27. April 2017
«Ihr Reich ist so gross wie der Mond», schmeichelte der bekannte Naturforscher Alexander von Humboldt seinem Gastgeber 1829. Zar Nikolaus entgegnete klagend, sein Land sei eigentlich viel zu gross, um vernünftig regiert zu werden. Zum Zeitpunkt dieser Begegnung in St. Petersburg hatten sich Landkarten bereits zu einem zentralen Instrument der Herrschaft entwickelt. Der Geschichte der russischen Kartografie widmet sich der Historiker Martin Jeske in seiner Dissertation «Ein Imperium wird vermessen: Kartografie, Wissenschaftstransfer und Raumerschliessung im Zarenreich (1797-1919)».
Von der Astronomie zur Kartografie
«Karten dienten der Kontrolle des Territoriums», fasst Jeske eine Prämisse aus seinem Forschungsfeld zusammen: «Je grösser das Bestreben nach Herrschaft, desto grösser war auch der Appetit auf Karten.» Die Genese der modernen Kartografie fiel denn auch in das Zeitalter des Imperialismus, dem langen 19. Jahrhundert, in dem die europäischen Grossmächte die Aufteilung der Welt forcierten.
Welche Rolle der Wissenschaft im Zarenreich zugekommen ist, untersucht Jeske auf Forschungsreisen nach St. Petersburg, Moskau, Tartu, Wien, Berlin und Bern. Bei seiner Analyse von topografischem Kartenmaterial und geodätischer Fachliteratur kann der Historiker auf einen Wissensvorrat zurückgreifen, den er sich in seinem ehemaligen Beruf als Landvermesser erworben hat.
Das naturwissenschaftliche Verständnis ist unerlässlich, um die Forschungsdebatten jener Zeit zu verstehen und die oftmals von deutschsprachigen Universitäten ausgehenden Wissenschaftstransfers nachzuvollziehen. Die Kartografen des 19. Jahrhunderts stützten sich massgeblich auf Erkenntnisse der Astronomie: Die Sterne dienten ihnen als Signale, das Firmament als Massstab für die Vermessung der Erde. Jeske verweist darauf, dass nicht zuletzt die Forschung von Leonhard Euler oder Johann Bernoulli wichtige kartografische Ansätze geliefert haben – die Universität Basel ist Alma Mater der beiden berühmten Mathematiker.
Krim, Kaukasus und andere sensible Grenzen
Eine zentrale Erkenntnis des laufenden Projekts besteht darin, dass sich die staatliche Vermessungstätigkeit besonders auf die Grenzen des Zarenreichs konzentrierte. «Seit Napoleons Russlandfeldzug von 1812 behielt die westliche Grenze stets oberste Priorität», erläutert Jeske, dessen Projekt an der Basel Graduate School of History vom Schweizerischen Nationalfonds getragen und von Professor Frithjof Benjamin Schenk betreut wird.
Kein anderer Landstrich Russlands wurde so früh so detailliert erfasst wie der Westen des Imperiums. Während die Grenzregionen von Sibirien und Fernost erst spät kartografische Aufmerksamkeit erhielten, wurden der Kaukasus und die Krim bereits im frühen 19. Jahrhundert vermessen. Das historische Kartenwerk zeugt von der machtpolitischen Bedeutung dieser beiden in jüngster Geschichte stark umkämpften Gebiete.
Letztlich blieb der Wunsch der russischen Zaren, ihr Reich von 22 Millionen Quadratkilometern zu vermessen und in Landkarten darzustellen, unerfüllt. Zum Zeitpunkt der kommunistischen Revolution vor 100 Jahren waren erst Fragmente dieser astronomisch anmutenden Fläche vermessen. Immerhin waren 1917 bereits einige Millionen Quadratkilometer bewältigt. Sie dokumentierten ein Reich, das nicht nur für Humboldt «so gross wie der Mond» war.
Weitere Auskünfte
M.A. Martin Jeske, Universität Basel, Departement Geschichte, Tel. +41 61 207 46 40, E-Mail: martin.jeske@unibas.ch