Detektivarbeit in Feld, Wald und Wiese
Egal, wo wir unterwegs sind, alles trägt einen Namen: Felder, Hügel, Gewässer, Ortschaften und Strassen. Woher kommen diese Benennungen und was verraten sie uns? Die Linguistin Dr. Jacqueline Reber gibt Einblick in ihre Arbeit in der Orts- und Flurnamensforschung.
21. Februar 2022
Im Kanton Solothurn gibt es das Chäsloch, den Göiferlätsch und Golpen. Es sind Flurnamen, sie bezeichnen also ein unbewohntes Stück Land. Die Leute benannten diese Flächen, um sie auseinanderzuhalten und sich zu orientieren. Heute übernehmen diese Funktion Parzellennummern, die alten Namen sind jedoch vielerorts geblieben. Auch viele Strassennamen gehen auf Flurnamen zurück.
Die Orts- und Flurnamenforschung trägt diese Namen zusammen, um sie zu bewahren – sowohl jene, die heute noch in Gebrauch sind, als auch nicht mehr verwendete. Dazu gehen die Forschenden in Archive und schauen sich Quellen an: Urkunden, Urbare, Grundbücher, Güterverzeichnisse, Karten. «Die ältesten Urkunden stammen aus dem 13. Jahrhundert, wir haben für Messen aber auch eine Königsurkunde aus dem 9. Jahrhundert gefunden. Wenn ich so etwas in den Händen halte, werde ich sehr ehrfürchtig», sagt Jacqueline Reber. Sie arbeitet als wissenschaftliche Mitarbeiterin am Departement Sprach- und Literaturwissenschaft der Universität Basel, ist Leiterin der Forschungsstelle und für die Herausgabe des Solothurner Namenbuchs verantwortlich.
Die Forschenden wollen nicht nur sammeln, sondern auch ergründen, warum etwas heisst, wie es heisst. Das ist Detektivarbeit. Vor allem, wenn man nach etwas Spezifischem sucht, wie zum Beispiel nach Belegen zu Flurnamen, die (noch) nicht deutbar sind, weil die Beleglage zu dünn ist. «Dann müssen wir viele verschiedene Quelle durchgehen. Das sind teilweise dicke Wälzer und oft Handschriften, die schwierig zu entziffern sind. Einfacher ist der Umgang mit alten Landkarten», beschreibt Reber ihre Arbeit. Dort sind Flurnamen genau lokalisiert.
Namen enthalten Zusatzinformationen
Bei der Deutung der Namen helfen sprachliche Lexika wie das Schweizerdeutsche Wörterbuch Idiotikon und die mittel- und althochdeutschen Wörterbücher. So wissen die Forschenden, dass Schwand, Schwendi und Rüti Rodungen bezeichnen. Brüel und Au sind Feuchtgebiete, Allmend und Byfang gehen auf die Dreizelgenwirtschaft zurück. «Es ist daher nicht verwunderlich, dass diese Namen an vielen verschiedenen Orten in der Schweiz vorkommen», sagt Jacqueline Reber.
Die Namen geben wichtige Hinweise auf das Gelände. Kennt und versteht man sie, lässt sich Schaden verhindern: Bezeichnungen mit einem Bezug zu Wasser deuten darauf hin, dass ein Gebiet eher feucht oder sumpfig ist, andere lassen vermuten, dass der Untergrund nicht solide ist oder der Hang rutscht. Keine guten Stellen, um zu bauen.
Bisweilen sind die Orts- und Flurnamenforschenden froh um Hilfe aus anderen Fachgebieten, zum Beispiel bei der Deutung von Chäsloch, eine Höhle in Winznau. Jacqueline Reber erinnert sich an die Recherche: «Wir wussten lange nicht, was der Name bedeuten soll. Allerdings gibt es in der Nähe auch einen Chäsacker. Wir wussten: Das deutet auf eine Viehmast hin. Eine Nachfrage bei der Kantonsarchäologie Solothurn hat ergeben, dass man in dieser Höhle tatsächlich Tierknochen gefunden hatte. Es kann also sein, dass man dort einst Tiere hielt. Ein Zusammenhang mit der Verbindung zur Lagerung von Käse ist nicht ganz auszuschliessen, aber die Verbindung zur Viehmast wohl wahrscheinlicher.»
Dem Volksmund Gehör schenken
Eine ebenso wichtige Quelle wie alte Dokumente oder archäologische Funde sind die Aussagen von ortansässigen oder –kundigen Personen. Sie sollen benennen, wie sie einem bestimmten Stück Land oder Ort sagen. Deshalb reisen die Forschenden in Dörfer und Gemeinden und sprechen mit den Leuten, vor allem mit älteren und solchen, die draussen direkt im Gelände gearbeitet haben wie Förster und Bauern. Bisweilen sei es allerdings schwierig, überhaupt jemanden zu finden, der noch Auskunft geben kann – oder will, erzählt Jacqueline Reber. Insbesondere in den abgelegenen Dörfern fragten sich die Leute, was denn «diese Studenten aus Basel» bei ihnen wollten. «Meist sind sie aber Feuer und Flamme, wenn sie verstehen, worum es uns geht: um ihre Heimat und ihren Dialekt.»
Das Gespräch mit solchen Gewährspersonen hat den Forschenden schon manches Aha-Erlebnis beschert. Es gibt viele Bezeichnungen, die vor allem im mündlichen Gebrauch vorkommen und in schriftlichen Quellen kaum oder gar nicht belegt sind, etwa Göiferlätsch in Oberdorf SO. Es ist die metaphorische Bezeichnung einer Alpwiese, die im Frühling lange mit Schnee bedeckt ist und vom Tal her aussieht wie das Lätzli eines Babys. Oder Kanada in Welschenrohr, eine Bezeichnung für ein abgelegenes Gebiet, das gemäss Aussagen der Gewährspersonen metaphorisch so weit weg liegt wie das Land Kanada.
Andere Namen sind entstanden, weil ein Ort mit einer Geschichte verbunden ist. Auch diese Bezeichnungen existieren häufig nur mündlich, wie «Dänksteinrain» in Balm b. Günsberg. Jemand war an dieser Stelle tödlich verunglückt und man installierte deshalb einen Gedenkstein. «Wenn mir das niemand erzählt, weiss ich weder, dass man diesen Ort so nennt, noch kenne ich die Geschichte dahinter», so Jacqueline Reber.
Solche Anekdoten und Volksetymologien nehmen die Forschenden meistens mit ins Lexikon auf, vor allem dann, wenn sie keine andere Erklärung oder Herleitung für einen Namen finden. Volksetymologien entstehen meist, wenn die Leute nicht verstehen, was ein Name beziehungsweise ein Wort bedeutet. Dann denken sie sich selbst eine mögliche Erklärung aus, zum Beispiel für die Goldgasse in Solothurn: Sie hat nichts mit Gold zu tun, der Erstbeleg von 1303 weist das Bestimmungswort Gol auf, das «grober Steinschutt» bedeutet. Die Goldgasse war also eine ‹Gasse am schuttführenden Bach›. Durch diese Gasse floss bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhundert. der Stadtbach, der heute auch Goldbach genannt wird.
Ungelüftete Geheimnisse
Aller Bemühungen um eine Deutung zum Trotz: Auch in der Orts- und Flurnamenforschung gibt es hoffnungslose Fälle. Es kommt vor, dass Namen zwar seit Jahrhunderten belegt sind, sich aber nicht abschliessend klären lässt, woher sie kommen. Weder Kartenmaterial noch Wörterbücher und Sprachkenntnisse helfen weiter. Ein Beispiel dafür ist Golpen. Im Lexikon steht dann entweder «unklar» – dazu werden die verschiedenen Deutungsmöglichkeiten aufgeführt – oder schlicht «ungedeutet». Jacqueline Reber nimmt es gelassen: «Die Generationen nach uns müssen ja auch noch etwas zu tun haben.»
Generationen-Projekte: Orts- und Flurnamenforschung in der Schweiz
Orts- und Flurnamen zu erfassen und zu deuten, dauert Jahrzehnte. Durch die Befragung älterer Menschen ergibt sich ein Stand von vor circa 80 Jahren. Diesen festzuhalten, solange es noch geht, ist ein Lauf gegen die Zeit. Ebenso wichtig ist es, die jungen Leute miteinzubeziehen: Sie nennen manche Orte anders als frühere Generationen. In Basel-Stadt gab es daher eine Online-Umfrage zu Parallelnamen: Florabeach für einen Abschnitt am Rheinufer oder Kiffer-Balkon als Übername der Pfalz sind Beispiele. Diese fanden Eingang ins Orts- und Flurnamenbuch des Kantons Basel-Stadt. Die Forschung zu den Kantonen Basel-Stadt und Basel-Landschaft ist bereits abgeschlossen. An beiden Projekten waren Forschende der Universität Basel beteiligt.
Das Solothurner Projekt läuft seit 1989. Professor Rolf Max Kully hatte es ins Leben gerufen und betrieb es ehrenamtlich. Mit seiner Emeritierung 2006 übernahm die Universität Basel die Weiterführung. Der fünfte Band zur Amtei Solothurn-Lebern ist soeben im Schwabe-Verlag erschienen. Nun bleibt noch die Amtei Bucheggberg-Wasseramt – mit 47 ursprünglichen, also nicht-fusionierten Gemeinden die grösste im Kanton. Abgeschlossen sein dürfte das Projekt im Jahr 2025.
In der Deutschschweiz ist die Orts- und Flurnamenforschung bereits weit fortgeschritten. Weisse Flecken sind die Kantone Aargau und Obwalden. In der Romandie fängt die Orts- und Flurnamenforschung allmählich an, im Tessin gibt es das Repertorio toponomastico ticinese, das sämtliche Flurnamen des Kantons sammelt.
Unter www.ortsnamen.ch sind die Forschungsergebnisse für alle zugänglich gemacht und auf den Karten von swisstopo sind Zeitreisen bis mindestens ins Jahr 1870 möglich (sogenannte Siegfriedkarte).