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Familien im Wandel. (02/2020)

Von der Kernfamilie bis zur Ehe für alle.

Text: Christoph Dieffenbacher

Was eine Familie ausmacht, bestimmt meist die Gesellschaft – immer wichtiger werden auch die Genetik und die Fortpflanzungsmedizin. Das Recht hinkt der Wirklichkeit hinterher und die Gesetze müssen regelmässig angepasst werden.

Zwei Frauen mit Baby. (Foto: Delphine Le Berre/Getty Images)
Zusammenleben kennt verschiedene Formen. (Foto: Delphine Le Berre/Getty Images)

Vom traditionellen Ernährermodell bis zum modernen Patchwork – die Familie, oft als «die kleinste Zelle der Gesellschaft» bezeichnet, nimmt in westlichen Staaten zunehmend verschiedene Formen an. In der Regel wird sie als eine Gemeinschaft aus Eltern mit Kindern umschrieben, die unter einem Dach zusammenleben – was aber früher wie heute nicht immer gegeben war oder ist.

Soll die Familie geschützt und vor anderen Formen des Zusammenlebens bevorzugt werden? Hat die Ehe noch eine Bedeutung? Wie ist das Verhältnis zwischen Eltern und Kindern definiert? Welche Rolle spielen neue Partner, gleichgeschlechtliche Paare, adoptierte Kinder?

Unterschiedliche Gemeinschaften

Das Thema Familie und ihre veränderten Formen beschäftigt Recht und Politik laufend. Relativ neu ist in der Schweiz die eingetragene Partnerschaft für homosexuelle Paare, die 2007 eingeführt wurde. Diskutiert wird derzeit die Idee einer «Ehe für alle», wonach der Staat allen Paaren geregelte Lebensgemeinschaften ermöglicht, ungeachtet des Geschlechts und der sexuellen Orientierung.

Noch keine spezifischen Gesetze gibt es hierzulande für Paare, die ohne Trauschein, also im Konkubinat zusammenleben, oder für Regenbogen- oder Patchwork-Familien mit Kindern aus früheren Beziehungen. In Frankreich können sich heterosexuelle Paare anstelle einer Heirat bereits mit einem speziellen Vertrag («Pacs») absichern.

Mit den heutigen verschiedenartigen Familienformen muss auch das Recht Schritt halten. «Gesellschaftlich anerkannt und akzeptiert sind weit mehr Arten von Familien, als gesetzlich geregelt sind», sagt Prof. Dr. Jonas Schweighauser, Titularprofessor für Familienrecht an der Universität Basel, daneben Advokat in Binningen BL, verheiratet, zwei Töchter. Trotz der neuen Familienformen gelte in der Vorstellung von vielen noch immer die Kernfamilie als das Mass aller Dinge: ein Paar mit Kindern. Dabei nehme das aktuelle Recht immer noch stark Bezug auf die traditionelle Ehe.

Bis 1983 hatte in der Schweiz der Ehemann als «Ernährer» der Familie noch zuzustimmen, wenn seine Frau ausser Haus arbeiten oder auch nur ein Bankkonto eröffnen wollte. Noch bis in die 1990er-Jahre galt in den Kantonen Wallis und Schwyz das Konkubinatsverbot. Sogenannte «wilde Ehen» waren strafbar und wurden von den Behörden verfolgt, homosexuelle Paare diskriminiert und uneheliche Kinder (und ihre Mütter) gesellschaftlich geächtet und rechtlich benachteiligt.

Öffnung und Individualisierung

Das alles ist gar nicht so lange her. Dafür ist das Familienrecht seither stark in Bewegung gekommen, und zwar in Richtung Öffnung und Individualisierung: «Der Wechsel von einer einschränkenden zu einer eher freiheitlichen Auffassung, was nach dem Gesetz eine Familie ist, verlief tatsächlich relativ rasch», sagt der Jurist Schweighauser. Während etwa eine «Ehe für alle» noch vor wenigen Jahren kaum akzeptiert wurde, befürworten sie nach Umfragen heute eine Mehrheit der Schweizerinnen und Schweizer. Allerdings wäre das Land bei einer Einführung eines der letzten in Westeuropa.

Neben der Gesellschaft seien es heute vor allem die Entwicklungen der modernen Fortpflanzungsmedizin, die das Familienrecht verändern, so Schweighauser. Anders als früher lässt sich zum Beispiel durch einen einfachen Gentest eine direkte Verwandtschaft rasch und genau nachweisen. Also gibt es praktisch keine Zweifel mehr, wer der Vater eines Kinds ist. Doch medizinische Techniken der Zeugung im Reagenzglas oder der Leihmutterschaft werfen neue Fragen auf, die gesetzlich geregelt werden müssen.

Die Schweiz hinke der internationalen Entwicklung noch immer hinterher, so der Familienrechtler, was nicht nur Nachteile mit sich bringe. Andere Länder hätten etwa bestimmte Möglichkeiten der Fortpflanzungsmedizin bereits ins Gesetz aufgenommen. Verboten sind hierzulande noch immer die Leihmutterschaft und andere Praktiken der Fortpflanzungsmedizin bei unverheirateten Paaren. Die Unterschiede zwischen den Staaten sind insofern ein Problem, als Eltern die Gesetze ihres Staats umgehen können: Sie lassen ihr Kind im Ausland austragen und auf die Welt bringen.

Ehe als materieller Schutz

Während es Schweighauser im Alltag als Advokat vor allem mit Trennungen und Fragen des Kinderrechts zu tun hat, bietet er an der Universität Basel auch kostenlose Rechtsberatung an. Da kommen ab und zu auch jüngere Paare zu ihm, die sich eine Heirat gemeinsam überlegen: «Ich rate jeweils dann dazu, wenn sich einer der beiden Partner wirtschaftlich einschränken muss, wenn zum Beispiel Kinder geplant sind.» Denn damit geniesst die materiell schwächere Person, meist die Frau, mehr Schutz als ohne Regelung.

Für den Juristen bedeutet die hohe Scheidungsrate nicht, dass die Familie heute ein Auslaufmodell ist oder dass früher alles besser war: «Ich bin überzeugt, dass es heute genau gleich viele gute und schlechte Ehen gibt wie vor 50 oder 100 Jahren.» Während in vergangenen Jahrhunderten Kinder vor allem zur Altersvorsorge gezeugt wurden, seien die Menschen heute durch den Staat viel besser abgesichert. Die Scheidungsraten von über 40% seien vor allem deshalb so hoch, weil man sich dies heute leisten könne – früher hatten es die beiden Partner miteinander auszuhalten, bis sie buchstäblich der Tod schied.

Kinder haben ohne Zusammenleben

Die Definition, was eine Familie ausmacht, kann auch ungewöhnliche Formen annehmen. Eine neue Entwicklung in Deutschland sei etwa das sogenannte Co-Parenting, erläutert der Familienrechtler: Erwachsene tun sich mit Partnern zusammen, mit denen sie ein Kind haben, doch nicht in einer Beziehung leben wollen. Die Suche nach Gleichgesinnten per Internet wird durch einen Verein organisiert.

Zwei Menschen zeugen also zusammen ein Kind – meist mittels einer Samenspende –, das sie in gemeinsamem Einvernehmen aufziehen, oft auch ohne zusammen zu wohnen. Juristisch können sie ihre Elternrechte wie andere wahrnehmen – nur haben sie die Betreuung ihres Nachwuchses von einer gemeinsamen Beziehung vollständig abgekoppelt. «Solche Paare machen sich vielleicht mehr Gedanken über das Kinderhaben als andere», kommentiert Schweighauser.


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