Ein Modell, um die Welt zu ernähren.
Text: Catherine Weyer
Die Weltbevölkerung wächst und mit ihr auch der Hunger nach Nahrungsmitteln. Um diesen auch in Zukunft stillen zu können, modellieren Ruth Delzeit und ihr Team, wie man den Boden dafür am besten nutzen soll.
In Hemmiken fährt ein Bauer mit dem Traktor über sein Feld. Er macht sich Gedanken über seinen Weizen: Wird er künftig genug Geld erhalten, damit sich seine Arbeit lohnt? Will in fünf Jahren überhaupt noch jemand seinen Weizen kaufen? Und was wird auf seinem Acker noch wachsen, wenn die Temperaturen immer weiter steigen und die Sommer entweder unglaublich trocken sind oder die Felder von Starkregen überschwemmt werden?
Antworten auf diese Fragen sucht Ruth Delzeit. Die Professorin für Global and Regional Land Use Change modelliert zusammen mit ihrem Team am Departement Umweltwissenschaften, wie wir in Zukunft die Natur nutzen werden. Wobei es nicht so sehr darum geht, wie wir das Land bebauen wollen, sondern darum, wie wir es bebauen müssen. «Mittelfristig können wir es uns nicht leisten, den Umweltschutz auf die lange Bank zu schieben. Sonst haben wir bald keine fruchtbaren Böden mehr für die Nahrungsmittelproduktion», warnt Delzeit.
Abhängig von globalen Playern
Die Landwirtschaft bekommt das Wachstum zu spüren, und zwar von allen Seiten: das Wachstum der Bevölkerung, das Wachstum des Wohlstandes, aber auch das Wachstum der Kritik, wie wir unseren Boden beackern – und welche Auswirkungen das auf die Natur hat.
Dabei ist auch dieses Wachstum von vielen Faktoren abhängig: Der Bauer in Hemmiken lebt und arbeitet wohl in einem kleinen Dorf, bezahlt seine Steuern in der Gemeinde und kann mit seinem Stimmrecht in der Schweizer Demokratie mitreden – seine Zukunft ist aber auch geprägt von globalen Playern. Gerade das macht die Arbeit von Delzeit und ihrem Team so komplex. «Im Moment arbeiten sich drei Doktoranden in das Modell ein – darum beneide ich sie nicht», sagt sie und lacht herzlich.
Kleine Änderung, grosse Auswirkung
Es handelt sich dabei um ein mikroökonomisches Modell zur Berechnung des allgemeinen Gleichgewichtes. Dabei berücksichtigen Delzeit und ihr Team alle Industriezweige. Sie berechnen, was passiert, wenn sich etwas an der momentanen Lage verändert. «Mit dem Modell kann man unterschiedliche Szenarien berechnen, indem man zum Beispiel eine Steuer auf den Fleischkonsum in Industrieländern einführt», erklärt Delzeit.
«Weil die Fleischprodukte somit für Konsumenten teurer werden, verteilen sie ihr Einkommen auf andere Produkte. Diese werden wegen der höheren Nachfrage auch etwas teurer, der Handel ändert sich. Es wird zum Beispiel weniger Tierfutter in Industrieländer importiert, dafür aber vielleicht mehr Gemüse. So ergeben sich neue Marktgleichgewichte und man kann dann die Situation mit und ohne Steuer vergleichen.»
Um Aussagen über die Zukunft der Nahrungsmittelproduktion tätigen zu können, müssen die Forschenden viel berücksichtigen: Wie viele Leute werden künftig auf der Erde leben? Wollen sie eher Fleisch oder eher Hülsenfrüchte essen? Wie wird sich der globale Lebensmittelhandel entwickeln? Wird es auf lokaler Ebene ein Umdenken in der Bewirtschaftung der Felder geben? Und welche Entscheidungen wird die Politik auf nationaler und internationaler Ebene bis dann getroffen haben?
Forschung liefert Entscheidungshilfen
Fragt man Delzeit nach einer Prognose für die Agrarpolitik im Jahr 2050, winkt sie ab. «Prognosen kann man für die nächsten drei bis vier Monate tätigen, länger nicht.» Das ist aber auch nicht ihr Ziel: «Wir schaffen Entscheidungshilfen», stellt sie klar. Die konkreten Pflöcke müssen andere einschlagen – mit ihren sogenannten Wenn-dann-Analysen schaffen Delzeit und ihre Team Grundlagen zur Orientierung. Und das ist auch ihr Ziel: «Ich finde es richtig, dass man in der Forschung wenig interpretiert. Und wenn, dann muss es klar gekennzeichnet sein.»
Delzeit hat vor beinahe zwanzig Jahren begonnen, sich mit den Themen Landnutzung und Nutzungskonflikte zu beschäftigen. Als studentische Hilfskraft forschte sie damals zu Biogas. «Da gab es anfangs einen grossen Hype, über die negativen Effekte hat man sich keine Gedanken gemacht», erzählt sie. Dann kam die Wirtschaftskrise 2008, gepaart mit klimatischen Veränderungen und Börsen, an denen auf Lebensmittelpreise gewettet wurde. Und plötzlich gab es in Südamerika keinen Mais mehr zu kaufen, die arme Bevölkerung musste hungern, Industrieländer verarbeiteten den Mais lieber zu Kraftstoff. «Es war sicher eine Verkettung mehrerer negativer Umstände damals. Das hat aber gezeigt, welche emotionale und auch moralische Aufladung das Thema Biokraftstoffe hat», so Delzeit.
Intensiver anbauen, wo es Sinn macht
Um Situationen wie diese zu verhindern, rechnen Delzeit und ihr Team Szenarien durch. Sollen mehr Flächen landwirtschaftlich bebaut oder die bestehenden Flächen intensiver bewirtschaftet werden? Welchen Einfluss hat das auf die Lebensmittelpreise? Und was passiert mit der Biodiversität?
Eine von Delzeits Erkenntnissen: Intensivere Landwirtschaft ist für die Biodiversität schonender, als wenn mehr Flächen bebaut werden. Aber auch hier muss man differenzieren: «In Industrieländern ist eine intensivere Landwirtschaft nicht mehr möglich», stellt sie klar. «Wir haben ja bereits heute Probleme mit Nitrat im Grundwasser.» In anderen Gebieten, zum Beispiel in der Subsahara, sehe die Situation aber ganz anders aus: «Hier könnte man mit gezielten Düngungen eine enorme Produktionssteigerung schaffen, ohne dass mehr Fläche verbraucht wird.» Gleichzeitig blieben andere Gebiete landwirtschaftlich ungenutzt, zugunsten der lokalen Biodiversität.
Sollte die Schweiz also aufhören, gewisse Lebensmittel zu produzieren, wenn diese in anderen Ländern effizienter angebaut werden können? «Das ist nicht realistisch», sagt Delzeit. «Staaten wollen Autarkie, sie wollen sich nicht komplett abhängig machen von anderen Staaten. Was sonst passieren kann, hat die Corona-Pandemie eindrücklich gezeigt, wenn plötzlich dringend benötigte Güter am Zoll zurückgehalten werden.» Also auch hier: Eine einfache Lösung gibt es nicht.
Ertragreich oder robust?
Genau damit setzt sich Delzeit seit zwei Jahrzehnten auseinander: Wo setzt man an, um die Ernährungssicherheit über Jahrzehnte hinaus zu garantieren? Baut man effiziente Pflanzensorten in riesigen Monokulturen an oder soll man eher auf alte Sorten zurückgreifen, die robuster sind, aber weniger ertragreich? «Indien baut beispielsweise wieder alte Reissorten an, die besser mit Überschwemmungen zurechtkommen», erzählt Delzeit. «Das ist eine sinnvolle Anpassung an den Klimawandel.» Aber auch hier gelte: Es gibt nicht einen richtigen Weg, um die ganze Weltbevölkerung zu ernähren und gleichzeitig die Biodiversität zu schützen.
Die Professorin betont aber auch, dass die Nahrungsmittel- produktion nicht der einzige Hebel ist, um eine Veränderung zu bewirken: «Wir müssen über die Kalorieneffizienz nachdenken: Welcher Aufwand ist nötig, um 1000 Kilokalorien aufzunehmen – mit Fleisch oder mit eiweisshaltigen Pflanzen?» Die Tendenz in Schwellenländern, mehr Fleisch und Milchprodukte zu konsumieren, werde die weltweite Agrarpolitik vor neue Herausforderungen stellen. Auch dies ist ein Rädchen in Delzeits grossem Modell.
Überhöhte Ansprüche
«Gleichzeitig haben wir ein riesiges Potenzial bei der Lebensmittelverschwendung», sagt die Umweltwissenschaftlerin. Allein in der Schweiz werden jährlich 2,8 Millionen Tonnen Lebensmittel weggeworfen, die geniessbar wären. «Wir haben einen enorm hohen Anspruch an die Lebensmittel und werfen deshalb Dinge weg, die gesundheitlich völlig unbedenklich sind», kritisiert sie. Ein Luxus, den man sich eigentlich nicht leisten kann – und unter dem vor allem die Natur leidet.
Auch hier gäbe es politische Hebel, die man tätigen könnte, ist Delzeit überzeugt. «Wenn die Lebensmittel teurer wären, würde man sie nicht in diesem Ausmass verschwenden.» Weil die Landwirtschaft aber subventioniert wird, spiegelt das Preisschild im Laden nicht die effektiven Kosten wider – und die Hemmungen der Konsumentinnen und Konsumenten sinken, das Lebensmittel wegzuwerfen.
Delzeit ist im Februar dem Ruf an die Universität Basel gefolgt, nachdem sie in Kiel das Research Center «Umwelt und natürliche Ressourcen» am Institut für Weltwirtschaft leitete. Hier will sie ihren Forschungsschwerpunkt ausbauen: mit Projekten zur nachhaltigen Wassernutzung, regionalen Fallstudien und einem Blick auf die Subventionierungspolitik.
«Heute werden sowohl Biokraftstoffe als auch fossile Energieträger vom Staat unterstützt. Es wird spannend sein, zu modellieren, wie sich politische Entscheidungen auf die weitere Nutzung der Kraftstoffe auswirken werden», sagt sie. Auch hier wird es sicher keine einfache Lösung geben. Aber damit rechnet Ruth Delzeit gar nicht erst.
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