Die Dystopie als Gesellschaftsspiegel.
Text: Anna Karško
Mein Buch: Die Literaturwissenschaftlerin Anna Karško empfiehlt zwei ihrer Lieblingsbücher über Zukunftsdystopien.
Ich liebe Dystopien. Es gibt nichts Schöneres, als geborgen auf dem Sofa zu sitzen und Texte zu lesen, die von einer alternativen Gegenwart oder Zukunft erzählen. Je unheimlicher die Geschichte, desto mehr vertiefe ich mich darin, angetrieben von der Frage: Was wäre, wenn …? Die wahre Kunst des Gedankenexperiments liegt für mich in dem, was wir uns als Zukunft nicht wünschen.
Ein solches beängstigend naheliegendes Szenario kreiert Zoë Beck in ihrem Zukunftsthriller «Paradise City» (2020). Das Buch handelt von einem Deutschland in 100 Jahren, das eine durch Klimakatastrophen und Pandemien geschrumpfte Bevölkerung beheimatet. Sie wohnt in der Megacity Frankfurt, wo es keinen Privatverkehr mehr gibt und alle vollkommen gesund sind.
Hier lebt auch Liina und Liina ist neugierig. Neugierig auf die Welt hinter dem Algorithmus, welche trotz staatlicher Kontrolle an gewissen Bruchstellen durchscheint – etwa in Form der sogenannten «Parallelen». Diese Menschen mit einer Beeintrachtigung oder chronischen Krankheit wurden von der Regierung an den Stadtrand gedrängt und leben dort ohne Infrastruktur. Liina ist auch neugierig auf die eigenartigen Todesfälle, welche sich in ihrer Umgebung zu häufen scheinen. Schlussendlich verstrickt sie sich in einen Kampf mit dem technischen System. Zoë Beck beweist die Fähigkeit, im Heute bereits Angedeutetes fertig zu denken. Für mich ein Gütesiegel für Zukunftsthriller.
Diese Fähigkeit, gepaart mit Witz und Ironie, zeigt auch Christian Kracht in seinem Roman «Ich werde hier sein im Sonnenschein und im Schatten» (2008). Er stellt sich jedoch eine alternative Geschichtsschreibung vor: Lenin fährt 1917 nicht nach Russland, sondern revolutioniert die Schweiz zu einer sowjetischen Republik. Das Land befindet sich seit 100 Jahren im Krieg und hat beinahe den gesamten afrikanischen Kontinent kolonisiert, das Militär hat sich weitgehend ins Réduit verzogen. Ein Staat, gemacht im Krieg und für den Krieg.
Auch in diesem Roman findet man das berühmte Körnchen Wahrheit und es stellen sich Fragen wie: Hätte die Schweiz Afrika mitkolonisiert, hätte sich die Chance geboten? Wie hätte sich die Weltgeschichte verändert, hätte Lenin den plombierten Eisenbahnwagen nicht bestiegen? Becks und Krachts Gedankenexperimente zeigen uns eine alternative Vergangenheit und Zukunft und halten unserer Gesellschaft dabei einen kritischen Spiegel vor.
Anna Karško ist Literaturwissenschaftlerin und arbeitet als wissenschaftliche Assistentin am Fachbereich Deutsche Philologie der Universität Basel. In ihrer Dissertation befasst sie sich mit deutschafrikanischen inter- und transkulturellen Begegnungen in Literatur der Gegenwart. Wenn sie nicht gerade schreibt, reist sie gerne, vor allem in afrikanische Länder.
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