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Alles Lüge! (01/2024)

Wer nur halb lügt, dem glaubt man gern.

Interview: Noëmi Kern

Literaturwissenschaftlerin Nicola Gess erforscht Erzählungen, die zwar gut klingen, aber nur halb der Wahrheit entsprechen. Diese haben in Krisenzeiten Hochkonjunktur.

Golden Gate Brücke ins Leere über felsiger Landschaft
Golden Gate ins Nichts. (Bild: Universität Basel, KI-generiert von Benjamin Meier)

UNI NOVA: Was sind die Merkmale einer Halbwahrheit?

Nicola Gess: Da stimmt ein kleiner Teil, der grössere Teil ist aber schlicht hinzuerfunden, grob verallgemeinert oder anderweitig verfälschend. Halbwahrheiten sind eine bestimmte Art von Falschaussagen, die sozusagen die Brücke vom Raum der Tatsachen zum Raum der Spekulation oder auch der Fiktion schlagen.

Worin unterscheidet sich die Halbwahrheit von der Lüge?

Die Lüge bleibt negativ an die Wahrheit gebunden; der Lügner erkennt die Autorität der Wahrheit quasi an, indem er sich ihr widersetzt. Der Begriff der Halbwahrheit impliziert dagegen, dass die Unterscheidung von Wahrheit und Unwahrheit verschwimmt. Wer mit Halbwahrheiten jongliert, dem ist häufig egal, ob das, was er sagt, stimmt oder nicht – er sagt einfach das, wovon er glaubt, dass es am besten ankommt. Halbwahrheiten sind auch viel schwerer zu widerlegen als Lügen. Das folgt meist dem Muster: «Ja, das und das stimmt zwar, aber dies und jenes stimmt eben nicht.» Und da hören schon viele Leute weg, weil es ihnen zu kompliziert ist, oder sie hören eben nur das «ja», wenn sie die Halbwahrheit gern glauben möchten, weil das Gesagte in ihr Weltbild passt.

In welchem Kontext untersuchen Sie Halbwahrheiten?

In unserem Forschungsprojekt haben wir Halbwahrheiten und andere Formen der Desinformation im Kontext des sogenannten postfaktischen politischen Diskurses sowie als ein Element von Verschwörungserzählungen untersucht, und zwar mit dem methodischen Instrumentarium der Literaturwissenschaften, zum Beispiel Erzähl- und Fiktionstheorien. Die untersuchten Halbwahrheiten haben oft die Form von kleinen Geschichten. Sie haben viel mit Anekdoten, aber auch mit Gerüchten gemein, vor allem darin, wie sie weitererzählt und im Weitererzählen modifiziert werden.

Sind Fehl- und Desinformation das Gleiche wie Halbwahrheiten?

Halbwahrheiten sind ein sehr potentes Instrument der Desinformation, das entsprechend häufig eingesetzt wird. Aber nicht jede Desinformation muss auf Halbwahrheiten zurückgreifen, und natürlich finden sich Halbwahrheiten auch in anderen Kontexten; im Projekt haben wir sie zum Beispiel auch als ein Instrument aus dem Werkzeugkasten des Hochstaplers untersucht.

Wir werden im Netz täglich mit so vielen Informationen aus unterschiedlichen Quellen konfrontiert. Macht uns das anfälliger für Unwahrheiten?

Jein. Das Internet ist ja nicht nur eine Schleuder von Falschinformationen, sondern erlaubt uns auch, Informationen in kürzester Zeit zu überprüfen. Aber natürlich: Dafür braucht es eine neue Form von medialer literacy, um zum Beispiel zuverlässige von weniger zuverlässigen Quellen unterscheiden zu können.

Braucht es eine zweifelnde Gesellschaft, damit Halbwahrheiten Anklang finden?

Halbwahrheiten gab es schon immer und überall. Aber mit Blick auf den öffentlichen Diskurs kann man sagen, dass Halbwahrheiten und andere Formen der Desinformation vor allem in Wissens- und Vertrauenskrisen reüssieren. Einfach gesagt: Wo es ein Bedürfnis nach Wissen und Erklärungen gibt, gleichzeitig aber das Vertrauen in die zuständigen Instanzen fehlt, öffnet sich ein Vakuum, das mit Desinformation gefüllt werden kann. Das konnte man etwa in der sogenannten «Querdenker- Bewegung» während der Corona-Pandemie beispielhaft beobachten.

Welche Rolle spielen Halbwahrheiten in der Politik?

Da hilft der Begriff des Postfaktischen weiter, der 2016 aufkam, im Zusammenhang mit dem Brexit, dem US-Wahlkampf und dem Sieg von Donald Trump. Der Begriff beschreibt ein Phänomen, das viele damals als neu erlebten: und zwar, dass im politischen Diskurs die Unterscheidung von Tatsachen und Meinungen zunehmend zu verschwimmen schien, dass Bauchgefühle und Ressentiments mehr Gültigkeit zugesprochen wurde als der Orientierung an belegbaren Fakten. Offenbar hatte sich da etwas verschoben im politischen Diskurs, und dafür wurde eben dieser Begriff geprägt. Zugleich muss man aber sagen, dass wir davor auch nicht einfach in einer Zeit der Fakten gelebt haben. Die Philosophin Hannah Arendt hat schon in den 1960er-Jahren über eine Tendenz gesprochen, die sie damals sehr beunruhigte, nämlich dass der Unterschied zwischen evidenzbasierten Tatsachenwahrheiten und subjektiven Meinungen zunehmend eingeebnet werde. Und wenn man noch weiter zurückblickt, stösst man auf das, was ich eben schon gesagt habe: Das Phänomen des Postfaktischen ist allgemein typisch für Krisenzeiten, vor allem für Wissens- und Vertrauenskrisen. In unserem Forschungsprojekt haben wir uns darum nicht nur mit der Gegenwart, sondern beispielsweise auch mit dem Zeitalter der Preussischen Reformen oder mit der Weimarer Republik beschäftigt, beides Zeiten grosser politischer, sozialer und medialer Umbrüche.

Wo mit Halbwahrheiten operiert wird, geht es nicht mehr um wahr und falsch. Versagt hier der Faktencheck?

Ich glaube nicht, dass Faktenchecks generell versagen, im Gegenteil: Ich denke, dass sie sehr wichtig sind. Aber ich würde sie ergänzen durch einen Fiktionscheck.

Was meinen Sie damit?

Fiktionscheck heisst zum Beispiel, dass man gerade dort besonders genau hinschaut, wo eine Geschichte zu rund daherkommt, wo sich alles kohärent zu einem grossen Ganzen fügt und die Rollen klar verteilt sind – das ist häufig einfach «zu gut, um wahr zu sein». Fiktionscheck heisst auch, dass man nach der erfolgreichen Widerlegung durch einen Faktencheck nicht einfach aufhört, sondern sich dann anschaut: Wie war denn diese Halbwahrheit gebaut, dass sie so überzeugend war? Halbwahrheiten funktionieren ja eben nicht nach dem binären Schema wahr/falsch, sondern nach einer Logik, die eher auf Glaubwürdigkeit, auf emotionale Ansprache, auf Anschlussfähigkeit, auch auf Aufmerksamkeit ausgerichtet ist. Sie haben oft viel mehr mit Geschichten gemein als mit rohen Daten. Und diese Logik muss man verstehen, wenn man Halbwahrheiten nachhaltig entzaubern will.

Buch: Nicola Gess: Halbwahrheiten. Zur Manipulation von Wirklichkeit, Berlin 2021.


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