Schillernde Dunkelheit.
Text: Barbara Spycher
Ob wir schlafen, feiern oder dubiosen Geschäften nachgehen: Die Nacht entzieht sich den Regeln des Tages und schafft Raum für das Unerwartete.
Michel Massmünster hat sich viele Nächte um die Ohren geschlagen – zu wissenschaftlichen Zwecken allerdings. Der Kulturwissenschaftler hat Menschen durch die Nacht begleitet, ist in Partys und Konzerte eingetaucht, hat Strassen und Szenerien auf sich wirken lassen und zeitgenössische sowie historische Schriften analysiert – und all das in seiner Doktorarbeit an der Universität Basel verarbeitet.
Er ist fasziniert von den Mysterien und den Ambivalenzen dieser Zeitspanne zwischen Sonnenuntergang und Sonnenaufgang: «Die Nacht lässt Raum für Ekstase oder für Einkehr, sie kann Faszination, aber auch Angst auslösen.» Das sei heute nicht anders als früher.
Akzentuiert hat sich das Wesen der Nacht mit dem Abriss der Stadtmauern, der in Schweizer Städten in der Mitte des 19. Jahrhunderts erfolgte. «Dadurch offenbarte die Nacht ihr verstecktes Gesicht», erzählt Michel Massmünster. Denn bis dahin war das Stadttor nachts geschlossen gewesen und die Menschen waren angehalten worden, zu Hause zu bleiben. Die nächtliche Stadt war nach innen gekehrt.
Mit der Industrialisierung änderte sich das: Aus Platzgründen wurden die Stadtmauern abgerissen, so dass die Stadt nachts zugänglich wurde. Zudem waren auch bei Dunkelheit vermehrt Menschen unterwegs, weil sie in die Fabrik oder zum Markt mussten.
Faszination für nächtliche Brennpunkte.
Die nächtliche Stadt wurde belebter und heller – auch mit dem Aufkommen der Gas- und später der elektrischen Beleuchtung. Und plötzlich wurde sichtbar, was sich zuvor im Verborgenen abgespielt hatte: Sexarbeit, Schmuggel oder andere illegale oder tabuisierte Aktivitäten.
Die Oberschicht reagierte einerseits angewidert, andererseits aber auch fasziniert. So wurden in grossen Städten wie Berlin oder Paris gar touristische Führungen an diese sozialen, nächtlichen Brennpunkte organisiert.
Doch im Grossen und Ganzen empfand das Bürgertum die Nacht als Problemzone, denn sie entzog sich seiner Kontrolle. So war die Angst gross, dass die Arbeitnehmenden die nächste Revolte gegen die ausbeuterischen Arbeitgeber planen würden, wenn sie nachts in Wirtshäusern beisammen sassen, tranken und sangen.
Raum für Ausbruch.
Dieser revolutionäre Charakter der Nacht ist in der heutigen postindustriellen Stadt zwar weitgehend verschwunden. Doch sind laut dem Stadtforscher Michel Massmünster die unterschiedlichen Facetten der Nacht bestehen geblieben – und neue dazugekommen wie die vielfältigen kommerziellen Optionen im Nachtleben.
Durch die Billigfluglinien können Jugendliche von ganz Europa für ein Wochenende beispielsweise nach Berlin fliegen und dort in unzähligen Klubs abfeiern. Und dabei schwingt auch immer «die Erwartung des Unerwarteten» mit, wie Michel Massmünster es nennt – ganz im Gegensatz zum Tag. Bei Tageslicht ist unser Leben viel getakteter, wir gehen gezielter raus, zum Arbeiten oder Einkaufen etwa. Doch ins Nachtleben starten viele mit der Offenheit für das, was passieren mag.
Durch diese kollektive Öffnung geschehe auch mehr und Spontaneres, hat Massmünster beobachtet. Sei es, dass man plötzlich mit fremden Leuten um ein knisterndes Lagerfeuer sitzt und zusammen singt und musiziert. Sei es die Ekstase beim Tanz, die Begegnung mit jemand Unbekanntem, das sexuelle Abenteuer. In den Klubs werde das natürlich inszeniert und verstärkt durch das Spiel mit Licht und Musik.
Auf der anderen Seite bietet die Nacht auch Raum für Ruhe, für Rückzug, für Reflexion. Sie ist einer der selten werdenden Momente in der heutigen Zeit, in denen wir abschalten und das Handy oder die Mails ruhen lassen können. Vorausgesetzt, wir gehören nicht zu denen, die Nachtschicht arbeiten. Und vorausgesetzt, wir machen die Nacht nicht zum Tag mit den neuen Kommunikationstechnologien, über die wir rund um die Uhr mit der ganzen Welt online verbunden sein könnten.
Neue Ordnung.
Doch wenn wir ihn uns nehmen, ist die Nacht ein Rückzugsraum. Ein Raum, in dem wir zurückgeworfen werden auf uns selbst, hüllenloser und verletzlicher sind. Wir können uns geborgen fühlen unter dem Sternenhimmel, als Teil all jener Menschen, die auch bald schlafen – oder ebenfalls wachliegen. Denn in diesen Rückzugsraum drängen sich gerne auch mal Gedanken, die wir bei Tageslicht übergangen haben. Im Dunkeln wachsen sie zu ganzen Problembergen an und rauben uns den Schlaf.
«Weil sie uns an das Übersehene erinnert, funktioniert die Nacht als Korrektiv zum Tag», sagt der Ethnograf Michel Massmünster. «Die Bedeutung der Nacht als Gegenpol, sei das als Zeit des Ausbruchs oder der Einkehr, stabilisiert die Ordnung des Tages.» Das zeige sich auch in der historischen Rückbetrachtung: Als im 19. Jahrhundert der Alltag zeitlich strukturierter wurde, bildete sich die Nacht als Raum der Unruhe und Gefahr aus.
Bis heute verstehen wir den Tag als Norm – und die Nacht als «das Andere». Das beobachtet Massmünster sowohl beim Nachtfahrplan des öffentlichen Verkehrs als auch im wissenschaftlichen Diskurs oder in der Methodik.
Die sozialwissenschaftliche Methode der teilnehmenden Beobachtung etwa gehe davon aus, dass der Wissenschaftler sieht, was passiert. «In einem abgedunkelten Klub funktioniert das nicht.» So entzieht sich die Nacht immer wieder den Regeln, die am Tag als selbstverständlich gelten. Und ob wir sie beleben oder verschlafen, sie kommt zuverlässig wieder, und stellt uns vor die Frage, was wir aus ihr machen.
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