Ein Erforscher des chemischen Raums.
Text: Christoph Dieffenbacher
Wissenschaftler erforschen die fast unendliche Welt der möglichen Moleküle und Verbindungen, um nach nützlichen Stoffen zu suchen. Anatole von Lilienfeld, Professor für Physikalische Chemie, entwickelt dafür neue, schnellere Methoden, die auf Quantenmechanik und Maschinellem Lernen basieren.
Die alten Mauern an der Klingelbergstrasse täuschen – hier wird modernste Wissenschaft betrieben. In dem knapp 100-jährigen Gebäude der «Physikalisch-Chemischen Anstalt» gibt es keine Labors mit Glaskolben, Bunsenbrennern und Messgeräten zu sehen. Gearbeitet wird hier fast nur an Computern, nur dass diese um ein Vielfaches leistungsfähiger sind als üblich. Hier nutzen die Forschenden starke Rechner, um neue Methoden zu entwickeln und zu testen, mit denen sie nach bisher unbekannten Stoffen suchen.
Tafeln voller Formeln
Anatole von Lilienfeld, Professor für Physikalische Chemie, empfängt den Besucher im Büro, nachdem er sich eben mit zwei Doktoranden besprochen hat. Offenes Gesicht mit feinen Zügen, tiefe Stimme, Jeans und einfaches Hemd. Neben dem grossen Computerbildschirm stehen da ein bequemes Sofa, Sessel und Laborstühle, am Boden liegt ein gemütlicher Teppich. Auf den Regalen wenige Bücher, ein paar Kinderfotos. Ein Objekt aus gebogenem Glas, eine Auszeichnung, die er in den USA erhalten hat.
Unübersehbar sind an zwei Wänden schwarze, mit Kreide beschriebene Tafeln mit Zahlen, Symbolen und Formeln. Hier werden Theorien diskutiert und Statistiken erarbeitet. Immer wieder schweift der Blick des Professors kurz über die vollgekritzelten Flächen. «Unser Ziel ist es, den chemischen Raum besser zu verstehen», sagt er und erläutert: «Damit bezeichnen wir jenen riesigen virtuellen Bereich, in dem alle überhaupt möglichen Verbindungen vorkommen.» Nur ein ganz kleiner Teil davon ist nämlich bekannt.
Zur Illustration zieht von Lilienfeld einen Vergleich mit der menschlichen DNA: Diese umfasst Sequenzen von nur vier Basen, die bereits die ganze biologische Vielfalt ausmachen. Analog dazu lassen sich die rund 100 chemischen Elemente theoretisch in allen geometrischen Variationen im Raum kombinieren, was «eine verrückt hohe Grösse» ergibt. Man schätze die Zahl möglicher Verbindungen auf 1060 allein für organische und mittelgrosse Stoffe – mehr als die Anzahl der Atome im gesamten Sonnensystem.
Woraus die Dinge sind
Aufgewachsen in Deutschland als Sohn eines Arztes und einer Theologin, hat sich von Lilienfeld schon als Kind dafür interessiert, woraus die Dinge gemacht sind, sagt er. Mit der häufigen Antwort «aus Atomen» habe er sich nicht zufriedengegeben, er wollte es genauer wissen. Zur Chemie fand er später wegen ihrer vielen Anwendungen. «Ihr Potenzial ist bis heute noch überhaupt nicht ausgeschöpft», ist von Lilienfeld überzeugt.
Auf die physikalische Chemie sei er an der ETH Zürich gekommen, wo sein Diplomvater theoretisch und experimentell das quantenmechanische Verhalten von Molekülen untersuchte. Seine Dissertation schloss er an der ETH Lausanne ab, dann ging es für acht Jahre in die USA. Dort forschte er über den chemischen Raum, so an der UCLA (Kalifornien), der New York University und den National Laboratories in Albuquerque (New Mexico) und Argonne (Illinois).
Von Lilienfeld lebt heute mit seiner Familie mitten in der Basler Innenstadt und empfindet die kleinräumlich-städtisch geprägte Umgebung als sehr angenehm: «In den USA musste ich jede Woche stundenlang im Auto sitzen, hier kann ich zu Fuss ins Büro.» Ebenso schätzt er die Arbeitsbedingungen in der Schweiz, die sich von jenen in andern Ländern positiv unterscheiden würden. So betreibe er zwar ausschliesslich Grundlagenforschung, stehe aber in regelmässigem Kontakt mit der Industrie.
Exponentielles Wachstum
Was tut nun ein Wissenschaftler im chemischen Raum? Von Lilienfeld untersucht diesen mit seinem Team mit den Methoden der Quantenmechanik. Ein innovativer und vielversprechender Ansatz, der auch international beachtet wird. Erforscht werden etwa die Eigenschaften, die Verteilung und das Verhalten der Elektronen in Molekülen. Durch den Vergleich im chemischen Raum versucht man dann, Strukturen und Gesetzmässigkeiten aufzuspüren, die sich auch darstellen lassen – ähnlich dem Periodensystem der Elemente, nur höher dimensional.
Für die dafür nötigen Berechnungen braucht es natürlich sehr leistungsfähige Computer. Deren Leistungen hätten eine immense, exponentielle Beschleunigung erfahren, sagt der Professor und stellt einen weiteren Vergleich an: Die Rechenzeit von Computern habe sich in den letzten 30 Jahren so stark beschleunigt, wie wenn sich ein Experiment, das früher ein Jahr dauerte, nun in einer Sekunde durchführen lasse.
Heute könne man Millionen von Molekülen am Computer quantenmechanisch beschreiben und in Statistiken fassen. Dadurch wird dieses Gebiet auch für die Methoden des maschinellen Lernens und der künstlichen Intelligenz relevant, die von Lilienfeld ebenfalls einsetzt. So können die Computerprogramme mithilfe von Statistik Muster im chemischen Raum erkennen und quantitativ genaue Voraussagen über das chemische Verhalten neuer «Molekül-Kandidaten» treffen.
Verstehen heisst voraussagen
«Konkret suchen wir zum Beispiel den chemischen Raum systematisch nach Verbindungen mit bestimmten Eigenschaften ab.» Andere Arbeitsgruppen führen dann die entsprechenden Experimente durch. «Möglicherweise kann man dank unserer Methoden tatsächlich einmal auf neuartige Medikamente oder wertvolle Materialien stossen, etwa im Bereich der Energie», sagt er. So habe man die Eigenschaften und die einfache Synthese von Graphen – einer ultradünnen, aber sehr reissfesten und erst noch leitfähigen Form des Kohlenstoffs – erst vor wenigen Jahren entdeckt.
Engagiert zeigt sich der Professor auch gegenüber seinen Studierenden: «Obwohl nicht alle davon später Theoretiker werden, möchte ich ihr Verständnis für die Grundlagen der Quantenchemie wecken: Elektronen bestimmen ja das Verhalten von Molekülen und sind nur als Quantenobjekte zu verstehen.» Einen seiner Grundsätze der Wissensvermittlung beschreibt er so: «Verstehen lässt sich in der Chemie daran messen, wie gut man das molekulare Verhalten vorhersagen kann.» Das gilt wohl auch anderswo: Wer etwas gut verstanden hat, kann bessere Prognosen anstellen.
Anatole von Lilienfeld, geboren 1976 in den USA und aufgewachsen in Deutschland, ist Associate Professor für Physikalische Chemie in Basel. Nach dem Studium in Leipzig, Strassburg und an der ETH Zürich wurde er 2005 an der ETH Lausanne promoviert. Nach Forschungsaufenthalten in den USA war er von 2013 bis 2015 SNF-Förderungsprofessor in Basel, darauf Associate Professor in Brüssel, bevor er wiederum an der Universität Basel eine Tenure-Track-Assistenzprofessur annahm. Von Lilienfelds Vorfahren stammen aus russischen und baltischen Adelsfamilien, die vor der Russischen Revolution von 1917 ins Deutsche Reich flüchteten. Er ist mit einer Bauingenieurin verheiratet und Vater von zwei Kindern.
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