«Aneignung ist ein Prinzip der Kunst an sich»
Die «Appropriation Art»-Künstlerin Elaine Sturtevant reproduzierte ikonische Werke von Andy Warhol, Roy Lichtenstein und Marcel Duchamp. Dass sie keine Kopistin ist, sondern mit ihren Arbeiten bewusst einen Stachel in das Konzept der Autorschaft setzt, zeigt die Auszeichnung mit dem Goldenen Löwen 2011. Der Basler Kunsthistoriker Prof. Andreas Beyer und der Rechtsanwalt Dr. Gernot Schulze werfen im Doppelinterview einen kritischen Blick auf das Prinzip der Aneignung in der Kunst.
15. Juni 2016
Herr Beyer, wann spricht man in der Kunst von «Aneignung»?
Andreas Beyer: Der Begriff ist in der zeitgenössischen Kunst mit der Richtung der Appropriation Art verknüpft, die in den letzten 30 bis 40 Jahren aufgekommen ist. Der Begriff der Aneignung oder «appropriation» ist also jung, das Phänomen an sich jedoch ist alt. Es ist ein Phänomen, das Kunst überhaupt definiert. Das Studium der Kunst ist immer ein Studium an der Kunst gewesen. Seit der frühen Neuzeit befreit sich die Kunst von der «mimesis», der Abbildung des Wirklichen, und besinnt sich auf die «imitatio». Sie bezieht sich also nicht mehr primär auf die Wirklichkeit, sondern auf die Kunst selbst. Künstler üben sich fortan in der «aemulatio», der Form des Übertreffens, des Weitergehens innerhalb der Kunst. Insofern ist Aneignung seit der Renaissance ein Prinzip der Kunst an sich.
Was unterscheidet die Appropriation Art von einer Kopie eines Werks von Dürer?
Beyer: Die Appropriation Art eignet sich Kunst an, indem sie sagt, dass sie das tut. Marcantonio Raimondi, der Dürerwerke nachgestochen hat, hat zunächst mit Dürers Monogramm „signiert“, möglicherweise ohne Fälschungsabsicht. Die Forschung streitet darüber bis heute. Eine mögliche Lesart ist, dass Raimondi, indem er Dürer kopiert und das Werk auch als einen Dürer verkauft, Dürer huldigt. In dem Moment, in dem ich aber sage «Das ist ein Dürer von mir» – und genau das macht Appropriation Art –, wird eine neue Qualität erreicht. Der Unterschied zwischen einem kopierten Dürer und einem Werk der Appropriation Art ist der, dass es Letzterer darum geht, deutlich zu machen, dass hier eine Einschreibung ins Andere stattfindet.
Herr Schulze, bei den Werken der Appropriation Art handelt es sich also offenbar nicht um Fälschungen. Können sie dennoch das Urheberrecht verletzen?
Gernot Schulze: Das Urheberrecht kann natürlich immer betroffen sein, da es sich ja um eine Vervielfältigung des Werks handelt, welcher der Urheber in der Regel nicht zugestimmt hat. Wenn Sie von einem schutzfähigen Werk eine Vervielfältigung herstellen, die Sie dann auch noch öffentlich zur Schau stellen, ist die Vervielfältigung zunächst einmal ein Rechtsverstoss.
Hat die Appropriation Art den Blick auf die Frage der Autorschaft in der Kunstgeschichte verändert?
Beyer: Sie problematisiert die Frage der Autorschaft ganz existenziell. Allein dadurch, dass die Künstler dies machen, ist ja eine Autorschaft vorhanden. Dass es sich bei dem neuen Werk um das Gleiche handelt, soll zum Nachdenken über Autorschaft anregen. Dies führt zu einem komplexeren Verständnis von Autorschaft, dem Phänomen der Kontinuität, der «imitatio» und der «aemulatio».
Kann man bei der Appropriation Art überhaupt von alleiniger Autorschaft sprechen?
Beyer: Ich bin mir nicht sicher, ob es sich hier nicht doch um eine kollektive Autorenschaft handelt. Wir arbeiten in einem Forschungsverbund namens «Bilderfahrzeuge». Als Bilderfahrzeuge bezeichnete der Kunst- und Kulturwissenschaftler Aby Warburg mobile Kunstwerke wie Teppiche oder Gobelins. Diesen Begriff nutzen wir im Projekt in einem immateriellen Sinn. «Bilderfahrzeuge» soll ausdrücken, dass jedes Bild von einem anderen Bild kommt und wieder in ein anderes übergeht. Jedes Bild ist also nur ein Teil einer kunstinhärenten Bewegung, die es aufnimmt und weitergibt. Die Frage der Autorenschaft ist also im Kontext dieses Wegs der Bilderfahrzeuge zu sehen. Es gibt ein Phänomen bei Michelangelo, das diese Frage problematisiert: die schlangenförmige Torsion der Figur, die Serpentinata. Sie wird später zu einem Hauptmotiv der manieristischen Kunst: Alle, die diese Torsion in ihren Werken aufnehmen, wurden Manieristen genannt, aber im negativen Sinn, da sie Michelangelo lediglich nachahmten. Es wird also mit dem zunächst negativ besetzten Begriff des Manierismus versucht, ein hoch erfolgreiches Phänomen – das der Torsion der Figur – wieder an den vermeintlichen Erfinder zurückzugeben. Wobei auch klar ist: Die Torsion der Figur hat ihren Ursprung gar nicht bei Michelangelo, sondern im damals gerade wiederaufgefundenen antiken Laokoon.
Aus rechtshistorischer Sicht: Hat sich der Begriff des Urhebers im Lauf der historischen Entwicklung gewandelt?
Schulze: Das würde ich so nicht sagen. Es hängt immer davon ab, wie weit Sie den Bogen spannen wollen. Vor 200, 300 Jahren gab es noch gar keine Urheberrechtsgesetze und damit auch die Problemstellung nicht. Das hat sich mit Einführung solcher Gesetze und den daraus herrührenden Rechten geändert.
Ab wann ist ein Kunstwerk juristisch geschützt? Oder anders gefragt: Wie viel Kunst darf man sich denn aneignen, bevor das Urheberrecht verletzt wird?
Schulze: Hier muss auf den Begriff der freien Benutzung verwiesen werden. Solange das fremde Werk als Anregung für etwas Eigenständiges dient, werden keine Urheberrechte verletzt. In der neueren Rechtsprechung des deutschen Bundesverfassungsgerichts wendet man da eine sogenannte kunstspezifische Betrachtungsweise an. Das heisst: Ein Werk, das an die Öffentlichkeit gelangt, wird Teil des kulturellen Geschehens. Wenn es der Urheber an die Öffentlichkeit entlässt, ist es nicht mehr vollständig bei ihm, sondern Gegenstand der Kultur und damit auch der kulturellen Auseinandersetzung. Es kann problematisch werden, wenn jemand diese neuere Rechtsprechung für sich ausnutzt, indem er im Wege des Samplings fremde Werke so aneinanderreiht, dass sie zwar vermarktbar werden, die künstlerische Eigenleistung sich jedoch in Grenzen hält. Das kann den ursprünglichen Autor zu Unterlassungsansprüchen bewegen. Darüber hinaus ist der merkliche wirtschaftliche Nachteil immer noch eine Messlatte.
Inwieweit spielt die juristische Perspektive bei der Betrachtung der Aneignung in der Kunstgeschichte eine Rolle?
Beyer: «Kunst und Recht» ist ein junges Thema in der kunsthistorischen Forschung. Weil auf Seiten der Kunstwissenschaft oftmals die Expertise fehlt, ist der interdisziplinäre Austausch so wichtig.
Und inwiefern fliesst kunsthistorische Expertise in die Rechtsgebung bzw. -auslegung ein?
Schulze: Sie kann zum Beispiel insofern bedeutsam sein, dass der Künstler in der Appropriation Art ja für sich in Anspruch nimmt, eine eigene künstlerische Aussage zu treffen, obwohl er, so könnte man im ersten Moment denken, nichts Eigenes schafft, sondern das fremde Werk nur vervielfältigt. Das wird ein Gericht sinnvollerweise nicht selbst beurteilen, sondern auf Experten vertrauen. Die Gerichte massen sich nicht an, über das zu entscheiden, was Kunst ist. Auch für die Appropriation Art gilt: Nicht alles, was Kunst ist, fällt zwingenderweise unter den urheberrechtlichen Schutz.
Sowohl Dr. Gernot Schulze als auch Prof. Andreas Beyer sind Referenten an der Tagung «Kunst und Recht 2016» der Juristischen Fakultät. Die Tagung findet am Freitag, 17. Juni 2016, im Congress Center Basel statt und richtet sich an Kunstrechtsexperten und weitere Kunstinteressierte. Auch Studierende sind willkommen. Weitere Informationen finden Sie auf der Website der Juristischen Fakultät.