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Covid-19 und Intensivmedizin: Zwei Repliken.

Corona und Triage: Wer soll behandelt werden, wer nicht? (Foto: Unsplash | CC0)
Corona und Triage: Wer soll behandelt werden, wer nicht? (Foto: Unsplash | CC0)

Selten hat eine Uni News zu so vielen Reaktionen geführt wie das Interview mit dem Rechtswissenschaftler Prof. Dr. Bijan Fateh-Moghadam zur Priorisierung von schwer erkrankten Covid-19-Patienten. In diesem Folgebeitrag melden sich ein Mediziner und ein Gesundheitsökonom der Universität Basel mit ihren Kommentaren zu Wort.

03. Juni 2020

Corona und Triage: Wer soll behandelt werden, wer nicht? (Foto: Unsplash | CC0)
Corona und Triage: Wer soll behandelt werden, wer nicht? (Foto: Unsplash | CC0)

Angesichts der Corona-Pandemie stellt sich die schwierige Frage: Wie den Zugang zur Intensivmedizin regeln, wenn die Beatmungsgeräte nicht mehr für alle Patienten und Patientinnen ausreichen? Im Interview sagte Prof. Fateh-Moghadam, dass die Triage-Kriterien der Schweizerischen Akademie der Medizinischen Wissenschaften (SAMW) alte Menschen und Patienten mit Vorerkrankungen diskriminieren. Weiterhin forderte er eine öffentliche Diskussion zur gerechten Verteilung von knappen Gesundheitsressourcen.

Prof. Dr. Hans Pargger, Chefarzt und Leiter der Intensivstation des Universitätsspitals Basel, widerspricht der Darstellung, dass die SAMW-Richtlinien mit dem Verfassungs- und Strafrecht unvereinbar seien. Er will die Zuteilung von Beatmungsmaschinen zukünftig nicht per Losverfahren entschieden sehen. Prof. Dr. Stefan Felder, Gesundheitsökonom an der Wirtschaftswissenschaftlichen Fakultät der Universität Basel, weist die juristische Kritik am Utilitarismus zurück. Aus seiner Sicht sind die SAMW-Richtlinien verfassungskonform.

Prof. Dr. Hans Pargger, Chefarzt und Leiter der Intensivstation des Universitätsspitals Basel, Universität Basel
Prof. Dr. Hans Pargger

Zwischen Ohnmacht, Betroffenheit und Ärger

Prof. Dr. Hans Pargger, Chefarzt und Leiter der Intensivstation am Universitätsspital Basel

Bisher haben sich in unserem Land die meisten Menschen nicht für eine Diskussion über Ressourcenknappheit auf der Intensivstation interessiert. Sie mussten es auch nicht, denn immer war ein Intensivbett verfügbar, vollausgerüstet mit Beatmungsmaschinen und genügend Fachpersonal. Covid-19 erzeugte dann Angst: Kein Intensivbett mehr. Und die Medienschaffenden haben die Mangelzustände in alle Stuben getragen.

Die Equipen auf den Intensivstationen in der Schweiz haben sich vorbereitet auf das Schlimmste. Sie haben die vorhandenen Ressourcen vervielfacht und sich überlegt, was die beste Vorgehensweise wäre, wenn die Ressourcen doch nicht genügten. Die SAMW hat mit den unter Zeitdruck verfassten Richtlinien mitgeholfen, dass sich Pflegende und Ärzteschaft sicherer fühlen konnten im Umgang mit möglichen Triageentscheiden, deren Durchführung man nicht trainieren kann und die bei allen Beteiligten Unbehagen hervorrufen.

Da steht der Beitrag von Herrn Fateh-Moghadam völlig quer in der Landschaft. Zuerst war ich ungläubig und betroffen, dann verärgert, und dann dachte ich: So kann das nicht stehen bleiben.

Im Artikel von Herrn Fateh-Moghadam wird respektvoll von der Leistung des Gesundheitspersonals gesprochen. Das sei verdankt. Die nachfolgende Aussage aber, die SAMW-Richtlinien zur Triage seien mit der Verfassung und dem Strafrecht unvereinbar, ist schlichtweg falsch. In den weiteren Ausführungen wird dann klar, dass Herr Fateh-Moghadam den Leser glauben machen will, ein Triageentscheid basierend auf Vorerkrankungen und Alter sei verfassungswidrig und potentiell strafbar, weil dies Diskriminierung bedeute. Dass die Verfassung der Schweiz auch Einschränkungen von Grundrechten (Art. 36, Bundesverfassung, Stand 2020) vorsieht, wird verschwiegen. Dass der jüngere Patient, der nun sterben muss, weil der ältere nicht diskriminiert werden darf, sein Grundrecht auf möglichst grosse Chancengleichheit (Art. 2) verwirkt hat, scheint nicht erwähnenswert.

Ähnlich verhält es sich mit der Aussage, eine nachträgliche Triage sei nicht zulässig und «kein Arzt darf den Empfehlungen zur nachträglichen Triage Folge leisten». Danke sehr! Soll das heissen: Einmal ein Beatmungsgerät, immer ein Beatmungsgerät, Abschalten verboten, auch wenn die Chancen auf Genesung gering sind? Wir sind überzeugt: Triage, vor oder nach Behandlungsbeginn, darf nur dann stattfinden, wenn sie nötig ist. Und die Betroffenen müssen so weit als möglich informiert sein. 

Schlimm ist, dass es im Nachgang dieses Artikels keine Diskussion darüber geben kann, was denn die Alternative zu Triageentscheiden sein könnte, weil kein Ausweg aus dem Dilemma aufgezeigt wird. So bleiben wir als Fachpersonen auf der Intensivstation allein. Wir sollen das Los über die Zuteilung von Beatmungsmaschinen werfen. Wir werden den Artikel von Herrn Fateh-Moghadam und seine Empfehlungen ganz schnell vergessen. Ich bin sicher, die Mehrheit der Stimmbürgerschaft wird uns dankbar sein, und kein Bundesgericht wird uns verurteilen.

Prof. Dr. Stefan Felder, Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Universität Basel
Prof. Dr. Stefan Felder

Den Utilitarismus richtig verstehen, Euer Ehren!

Prof. Dr. Stefan Felder, Wirtschaftswissenschaftliche Fakultät, Universität Basel

Stellen wir uns vor: Im Herbst steigt wegen einer zweiten Covid-19 Welle die Nachfrage nach Intensivbetten dramatisch an. Ein Spital könne pro Tag nur 25 Patienten und Patientinnen aufnehmen, müsse aber gleichzeitig 75 mangels Betten abweisen. Es gäbe zwei Gruppen von Patienten, deren Unterschiede in Tabelle 1 charakterisiert sind. Patienten der Gruppe A können mit einer Behandlung gerettet werden, während sich bei Patienten der Gruppe B die Wahrscheinlichkeit des Überlebens nur von 20% auf 40% verbessert.

Das Spital legt heute seine Priorisierungsregeln für den Herbst fest. Verfährt es utilitaristisch, wird es nur Patienten aus Gruppe A behandeln und gegenüber der Situation ohne Behandlung 10 Menschen retten (vgl. Tabelle 2). Priorisiert das Spital die Patienten nach der Dringlichkeit der Behandlung, nimmt es nur Patienten aus Gruppe B auf und rettet so fünf Leben. Entscheidet das Spital per Los oder folgt dem Prinzip «First come, first served» (FCFS), nimmt es Patienten aus den beiden Gruppen im Verhältnis derer Gruppenstärke auf und rettet insgesamt sieben Leben.


Wir halten fest und ziehen Schlüsse.

  1. Die Knappheit bei den Betten und den Möglichkeiten der Medizin bedeutet, dass Todesfälle nicht zu vermeiden sind. Wird auf die Priorisierung gemäss dem Utilitarismus verzichtet und nach Dringlichkeit priorisiert, sterben zusätzlich fünf Menschen. Greift man stattdessen auf Los oder FCFS zurück, gehen drei Menschenleben verloren.
  2. Lässt man die Patienten über die Alternativen abstimmen, setzt sich die grössere Gruppe B mit dem Programm Dringlichkeit durch. Dies mag erklären, weshalb der Bundesrat im März 2020 das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben lahmlegte und ihm das Parlament im Mai folgte.
  3. Vor dem «Schleier des Unwissens», wenn niemand wüsste, welcher Gruppe er im Herbst angehörte, würden alle dem Programm Utilitarismus zustimmen. Das Ergebnis wäre effizient und gerecht.
  4. Die SAMW legte ihre utilitaristischen Auswahlregeln «ohne Ansehen der Person» fest. Diese Regeln erfüllen somit das Gleichheitsgebot der Bundesverfassung.
  5. Die Priorisierung nach Erfolgsaussicht der Behandlung entspricht dem Wirksamkeitsgebot gemäss Art. 32 des Bundesgesetz über die Krankenversicherung.
  6. Art. 32 verlangt auch die Wirtschaftlichkeit von medizinischen Massnahmen. Dazu äussert  sich die Akademie nicht; es gibt aber medizinische Richtlinien, etwa jene für Frühgeburten, bei denen es ebenfalls um Leben und Tod geht, wo die Kosten der Versorgung adressiert werden.     

Die juristische Kritik an der SAMW fällt ins Leere. Deren Empfehlungen sind nicht «rechtlich problematisch». Vielmehr geben sie eine verfassungskonforme Antwort auf die Frage, wie mit der Knappheit medizinischer Ressourcen umzugehen ist. Juristen, räumt den Pappkameraden «Vulgär-Utilitarismus» in die Besenkammer!

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