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Überbauen oder begrünen? Platz für Pflanzen in der Stadt

Rathausturm hinter Bäumen, Luzern
Grüne Elemente im urbanen Raum (hier Luzern) haben einen ästhetischen sowie ökologischen Nutzen. (Foto: Adobe Stock)

Dichte Siedlung auf der einen Seite, Natur auf der anderen. Wenn der verfügbare Platz begrenzt ist, gilt es abzuwägen, wie er zu nutzen ist. Welche Kriterien soll man dabei beachten? Ein Historiker der Universität Basel untersucht in seiner Doktorarbeit, wie Modeerscheinungen und gesellschaftliche Entwicklungen die Grünräume in der Stadtplanung beeinflusst haben.

10. Juni 2024 | Noëmi Kern

Rathausturm hinter Bäumen, Luzern
Grüne Elemente im urbanen Raum (hier Luzern) haben einen ästhetischen sowie ökologischen Nutzen. (Foto: Adobe Stock)

Schattenspendende Bäume, Rasenflächen zum Spielen oder Picknicken und farbenprächtige Blumenbeete: Eine Stadt ist mehr als Asphalt zwischen Häuserzeilen. Grünflächen sind ein wichtiges Kriterium für die Lebensqualität, wie diverse Städterankings veranschaulichen. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden diese grünen und bunten Inseln Teil der Stadtplanung.

Welche Kriterien bei der Gestaltung mitspielten, ist Inhalt des Dissertationsprojekts «Die Stadt Luzern und das Grüne: Eine Geschichte urbaner Natur im 19. und 20. Jahrhundert», das Linus Rügge am Departement Geschichte der Universität Basel demnächst abschliesst. «Dass Städte und Natur heute als Gegensätze verstanden werden, die es wieder zu vereinen gilt, muss eine Geschichte haben. Darüber will ich mehr erfahren», begründet der in Luzern aufgewachsene Rügge sein Forschungsinteresse.

Ästhetische Vorstellungen von Natur

«Stadtentwicklung und gesellschaftlicher Wandel waren und sind eng miteinander verbunden», weiss der Historiker. Das zeigen verschiedene Fallbeispiele, die er in seiner Doktorarbeit aufarbeitet. Der Tourismus war in Luzern schon früh eine treibende Kraft der Stadtentwicklung. So spielten ästhetische Überlegungen eine Rolle bei der Gestaltung urbaner Räume; das Ortsbild sollte etwas hermachen und der Blick aus den Hotelzimmern auf die Berge nicht durch Fabrikschlote oder Wohnblocks verstellt sein.

Kolorierte Postkarte Nationalquai Luzern
Die kolorierte Postkarte zeigt den Nationalquai in Luzern zwischen 1900 und 1906 mit Grünanlagen, die Xaver Schlapfer gestaltet hat. (Quelle: Luzern. Hotel National, Zentralbibliothek Zürich, Sammlung Photochrom, Schweiz)

Ein anderes Beispiel sind die Feuchtgebiete entlang des Vierwaldstättersees: Anfang des 20. Jahrhunderts kam es dort jeweils im Frühling zu einer Mückenplage, die mehrere Wochen andauerte und der man nicht Herr wurde. Die Stadt Luzern liess deshalb Dieselöl in den Feuchtgebieten ausbringen, um die Mückenlarven zu töten. Später kam das Insektizid DDT aus der Basler Chemie zum Einsatz. «Luzern sollte als Tourismusdestination nicht als rückständig gelten, weil man dieses Problem nicht im Griff hatte», sagt Linus Rügge. Die Warnungen der örtlichen Fischer und Bauern, die sich über weniger Fische und verschmutztes Heu beklagten, wurden lange nicht ernst genommen. «Schliesslich löste man das Problem, indem man die Feuchtgebiete trockenlegte und die Fischer entschädigte. Damit konnten alle leben – ausser das Schilf, die Fische und die Mücken, die weichen mussten», so der Historiker weiter.

Fälle wie dieser zeigen, dass die Vorstellungen über die Gestaltung von urbanem Raum auseinandergehen. «Und weil der Platz begrenzt ist, stellt sich die Frage, wessen Stimme gehört wird. Deshalb ist Natur in der Stadt immer auch eine soziale Frage. Die Interessen der Natur selbst kamen oft ganz zuletzt, weil sie sich nicht artikulieren konnte», sagt Rügge.

Der Zeitgeist gestaltet mit

Ab der Mitte des 19. Jahrhunderts entstanden mit den Stadtgärtnereien Institutionen, die sich um die Pflege der Grünanlagen in der Stadt kümmerten und sie weiterentwickelten. Die Mitarbeiter holten sich für die Gestaltung andernorts Inspiration, wie Reiseberichte, zum Beispiel des Luzerner Stadtgärtners Xaver Schlapfer belegen: Er unternahm Ausflüge in andere Städte und holte sich dort Anregungen für die eigene Arbeit. In Gent und Brüssel liess er sich etwa von den Wettbewerben für die Balkonbepflanzungen inspirieren und ab 1908 prämierte Schlapfer die schönsten Luzerner Fassadendekorationen. Zu gewinnen gab es exotische Palmen fürs heimische Wohnzimmer. Schon bald übernahm die Basler Gartenbaugesellschaft die Idee und versuchte die Basler Bevölkerung mit einem Blumenschmuck-Wettbewerb zum Gärtnern zu motivieren.  Auch der Luzerner Stadtgärtner Schlapfer besuchte Basel mehrmals und fand, dass es «durch die Pracht u. Manigfaltigkeit der modernen Ziergärtnerei» auf der Höhe der Zeit stehe. Besonders beeindruckt war er von den Seerosen im Botanischen Garten und vom damals neuen Schützenmattpark.

Alte Fotografie der Pauluskirche Basel
Xaver Schlapfer, Stadtgärtner in Luzern, liess sich von anderen Städten inspirieren, etwa von Basel. Die Fotografie ist seinem Reisebericht beigefügt. (Quelle: Zeitschrift Schweizerischer Gartenbau)

«Einen Park zu haben, war damals für eine moderne Stadt ein Muss», sagt Linus Rügge. Im Gegensatz zu den älteren Parkanlagen, die vor allem dekorativen Charakter hatten, kamen nach 1900 sogenannte Volksparks in Mode, in denen sich die Menschen auf den Grünflächen frei bewegen und zum Spielen oder Picknicken treffen konnten. Mit der Einführung des Achtstundentages hatten sie mehr Freizeit und angesichts der wachsenden Städte und des zunehmenden Verkehrs waren Parkanlagen willkommene Oasen der Ruhe. «Man hielt es zudem für wichtig, dass die Kinder draussen spielen können», so Rügge. Der Basler Schützenmattpark verfügte mit einem Musikpavillon und einem Spielplatz, der im Winter zur Eisbahn umfunktioniert wurde, über beliebte Vergnügungsangebote. «Dahinter steckte auch eine ordnungspolitische Idee: Im Volkspark sollten alle Bevölkerungsschichten zusammenfinden und der Grundstein für ein gesundes und zufriedenes Staatsvolk gelegt werden», erzählt Linus Rügge.

Die Anforderungen wandeln sich

In Luzern entstand am Rotsee, etwas ausserhalb der Stadt gelegen, ein Naherholungsgebiet für die Stadtbevölkerung. «Bis in die 1920er-Jahre war der See eine Kloake, an dessen Ufern Kehricht lagerte», weiss Linus Rügge. Doch die Stadt wuchs. Als neue Häuser in Seenähe gebaut wurden, wehrten sich deren Besitzer gegen den Gestank und erkämpften die Sanierung des Sees. «Der Quartierverein wollte den ländlichen Charakter des Gebiets erhalten und errichtete das erste Naturschutzgebiet in der Stadt», sagt Rügge. Eine Bauordnung verbot zudem grosse Mietshäuser und hielt so arme Familien fern.

Das Naturschutzgebiet besteht noch heute und der Rotsee ist regelmässiger Austragungsort von Ruderregatten. Linus Rügge weiss: «Die Motive waren damals auch stark eigennützig, weil man die ländliche Idylle der eigenen Wohnumgebung erhalten wollte. Aber trotzdem profitieren wir noch heute von den Resultaten dieser Initiativen.»

Bestehendes pflegen und rüsten für die Zukunft

Die Idee, dass grüne Elemente im urbanen Raum wichtig sind für die Erholung und das Zusammenkommen der Bevölkerung, hat sich gehalten – gerade auch in Zeiten von verdichtetem Bauen, und Klimawandel. Wichtige Aspekte bei der Gestaltung dieser Flächen sind Biodiversität, Entsiegelung, Luftqualität und Abkühlung sowie der Wechsel auf klimaresistentere Arten. Auch Stadtgrün Luzern richtet sich bei der Pflege von Bäumen und Grünflächen und deren Weiterentwicklung nach diesen Grundsätzen.

«Diese Bemühungen sind wichtig», findet Linus Rügge. Es gelte aber immer genau hinzuhören, welche Arten, Landschaften, Ziele und Ideale gefördert werden sollen, wenn von «Natur» die Rede ist. «Wer ist schon gegen Natur? Meine Forschung zeigt jedoch, dass nicht jedes Argument ‹für die Natur› im 20. Jahrhundert so selbstlos war, wie es schien. Und ich möchte ein Bewusstsein dafür schaffen, dass unterschiedliche Akteurinnen und Akteure mit vielfältigen, teils auch widersprüchlichen Interessen im Namen der urbanen Natur sprachen. Das gilt es auch heute noch zu bedenken.»

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