Wie genau ist die Wissenschaft, Tobias Straumann?
Text: Tobias Straumann
Um die Welt präzise abzubilden, unterscheiden sich die Geistes- von den Naturwissenschaften grundsätzlich. Auch mit dem Problem ungenauer Befunde gehen sie verschieden um.
Wer Geschichte studiert, erfährt schon im ersten Semester, dass es so etwas wie objektive Fakten nicht gibt, denn wir nehmen die Vergangenheit immer höchst selektiv wahr. Vieles, was geschehen ist, wird erst gar nicht überliefert, und die Art und Weise, wie wir Quellen interpretieren, ist immer abhängig von unseren persönlichen Präferenzen, die durch alle möglichen Faktoren beeinflusst sind. Einige dieser Faktoren sind uns bewusst, andere nicht. Die vollständige Offenlegung der eigenen Erkenntnisinteressen bleibt Utopie.
Doch hat die historische Disziplin durchaus den Anspruch, als Wissenschaft aufzutreten. Die Studierenden werden mit den Methoden der Quellenkritik, der Literaturauswertung und des Schreibens vertraut gemacht. Allen Forschungen liegt das Ziel zugrunde, die Argumentation und die empirische Grundlage so transparent wie möglich zu gestalten. Der Grad der Wissenschaftlichkeit wird daran gemessen, wie gut eine historische Arbeit intersubjektiv nachvollziehbar und überprüfbar ist.
In der Wirtschaftsgeschichte ist der Anspruch der Wissenschaftlichkeit noch stärker ausgeprägt als in der allgemeinen Geschichte. Der Grund dafür ist, dass nicht nur qualitative Quellen, sondern auch serielle Daten die empirische Basis ausmachen und oft mithilfe von statistischen Analysen ausgewertet werden. Wie die Ökonomie versucht die quantitative Wirtschaftsgeschichte (Kliometrie), den Einfluss bestimmter Faktoren auf ein klar definiertes Phänomen zu identifizieren und zu gewichten.
Wie nun sollen die Studierenden diese widersprüchlichen Signale interpretieren? Gehen die Geistes-und Sozialwissenschaften tatsächlich wissenschaftlich vor? Oder handelt es sich doch nur um einen zum Scheitern verurteilten Versuch, gewisse Regelmässigkeiten des menschlichen Denkens und Handelns zu beschreiben? Aus einer streng erkenntnistheoretischen Sicht ist zweifellos Letzteres der Fall. Es ist unplausibel, anzunehmen, dass sich die Menschen nach allgemein gültigen Regeln verhalten, die es zu entdecken gilt. Die Naturwissenschaften sind hingegen durchaus in der Lage, Gesetzmässigkeiten zu identifizieren. Wer also Geschichte oder Ökonomie studiert, sollte sich immer bewusst sein, wie unpräzis das vermittelte Wissen ist.
Aus einer ethischen Sicht verdienen die Geistes-und Sozialwissenschaften das Etikett «wissenschaftlich» aber durchaus. Denn es ist ihr Ideal, ihre Forschung so systematisch wie möglich zu gestalten und ihre Ergebnisse so transparent wie möglich darzustellen. Nach Abschluss des Studiums sind Ökonominnen und Historiker vielleicht nicht im Besitz von allgemeingültigen Wahrheiten, aber sie sind in der Lage, seriöse Arbeit von Scharlatanerie zu unterscheiden. Dies ist in der heutigen Welt keineswegs gering zu schätzen.
Dass die Studierenden ein starkes methodisches Bewusstsein entwickeln, erfordert allerdings, dass dem Ideal konsequent nachgelebt wird. Das ist leider nicht immer der Fall. In der Ökonomie werden bisweilen die Daten so lange «befragt», bis sie «ein Geständnis ablegen». Manchmal ist auch die Datenqualität äusserst zweifelhaft, und dennoch wird damit ein Modell gefüttert. In der Geschichte werden gelegentlich Autoren, deren Meinung aus politischen Gründen nicht passen, einfach nicht zitiert. Deswegen ist aus meiner Sicht die Frage nach der Wissenschaftlichkeit in den Sozial-und Geisteswissenschaften letztlich eine Frage des Charakters derer, die sie ausüben.
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