Wie genau ist die Wissenschaft, Dieter Ebert?
Text: Dieter Ebert
Um die Welt präzise abzubilden, unterscheiden sich die Geistes-von den Naturwissenschaften grundsätzlich. Auch mit dem Problem ungenauer Befunde gehen sie verschieden um.
Naturwissenschaften, die exakten Wissenschaften, werden oft mit dem Aufdecken von Fakten und Gesetzmässigkeiten in Zusammenhang gebracht. Bereits in der Schule lernt man Physik, Chemie und Biologie in Form von klaren Begriffen und Gegebenheiten. Die Naturwissenschaften werden in diesem Sinn von den Geisteswissenschaften abgegrenzt. In der modernen Biologie, aber nicht nur dort, ist das aber immer weniger der Fall: Aussagen werden zunehmend durch Wahrscheinlichkeiten ersetzt.
Was wir vom Wetterbericht kennen, etwa die Aussage einer 50%-Schauerneigung, gibt es auch in der Biologie und Medizin. Impfstoffe reduzieren die Wahrscheinlichkeit, eine bestimmte Infektion zu bekommen, einzelne Genvarianten erhöhen das Brustkrebsrisiko und Pflanzensamen haben eine gewisse Wahrscheinlichkeit, im nächsten Frühling zu keimen. Die Ursachen dieser Ungenauigkeiten sind in jedem Fall anders und können oft selbst nicht kontrolliert werden. Wenn ich nur einen Samen habe, kann ich nicht sagen, ob er keimen wird. Habe ich aber 100 Samen, lässt sich eine Aussage machen, welcher Prozentsatz keimen wird. Um Befunde auszudrücken, braucht es deshalb Statistik – Angaben zu den Häufigkeiten, mit denen eine Aussage zutrifft.
Um Aussagen in einen Rahmen zu setzen, vergleichen Wissenschaftler Wahrscheinlichkeiten miteinander. Zum Beispiel wird die Wirkung einer Behandlung (Medikament, Dünger, Toxin, Bestrahlung) mit einer andern (kein Wirkstoff, Placebo) verglichen. Wenn der Unterschied zwischen den Objekten, die unterschiedliche Behandlungen erfahren haben, gross ist, spricht man von einem signifikanten Behandlungseffekt. Ob der Unterschied gross genug ist für einen signifikanten Effekt, hängt von einer Konvention ab, die etwa so lauten könnte: Wenn man zwanzigmal ein Experiment mit einer wirkungslosen Behandlung durchführt, dann darf es einmal durch Zufall signifikant sein. Das heisst, hin und wieder findet man einen signifikanten Effekt, den es eigentlich nicht gibt.
Umgekehrt kann es durch Zufall passieren, dass eine wirkungsvolle Behandlung keinen signifikanten Effekt produziert. Mit einem höheren Aufwand lassen sich solche falschen Folgerungen reduzieren, aber man kann sie nie ausschliessen. Goldstandard ist es, ein Experiment, das einen Effekt aufgezeigt hat, zu wiederholen. Wenn es einen Zusammenhang aufgedeckt hat, wird es das wahrscheinlich wieder tun. Leider werden Experimente gerade dann oft nicht wiederholt, wenn sie ein positives Ergebnis brachten, aber wiederholt, wenn das Ergebnis negativ war. So wird die Wahrscheinlichkeit herabgesetzt, den wahren Zusammenhang zu finden.
Dies und noch mehr trägt zu der sogenannten Replikationskrise bei, die seit einiger Zeit die Lebenswissenschaften erschüttert. Laut verschiedenen Studien ist ein grosser Teil aller biologischen und medizinischen Befunde nicht wiederholbar. Kann man der Biologie noch trauen? Ich denke, ja, denn die Fortschritte, die das Feld gesamthaft macht, zeigen das ganz klar. Der Fortschritt könnte aber schneller sein, denn jedes falsche Ergebnis ist ein Schritt zurück.
Als Wissenschaftler habe ich ein gesundes Misstrauen bei der Beurteilung neuer Erkenntnisse entwickelt. So beurteile ich neue wissenschaftliche Ergebnisse im Rahmen dessen, was wir schon zu wissen glauben. Wenn etwas absolut neu ist und sich mit keinen vorherigen Ergebnissen vergleichen lässt, bin ich automatisch skeptischer. Dazu kommt die Qualität des wissenschaftlichen Ansatzes: Neben Inspiration und Motivation braucht gute Wissenschaft wohlüberlegte und saubere Herangehensweisen, die leider selten sind. Diese Herangehensweisen müssen wir an der Universität vermitteln. Gute wissenschaftliche Ansätze und ein Verständnis für quantitative und statistische Zusammenhänge sind ein notwendiges Grundwerkzeug der modernen Wissenschaft.
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