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Erinnern und Vergessen. (01/2021)

Die Frau, die nie vergisst.

Text: Angelika Jacobs

Nur etwa 60 Menschen auf der Welt erinnern sich an alles, was sie je erlebt haben. Viele leiden stark darunter. In ihrem Erbgut suchen Forschende nun nach Antworten, warum wir vergessen können.

Frau liegt auf Bett umgeben von Fotos und bedeckt das Gesicht mit den Händen
Wenn jeder Tag im Gedächtnis bleibt, kann Erinnerung zur Last werden. (Symbolbild: Ian Dooley, unsplash)

«Ich habe ein Problem mit meinem Gedächtnis.» James McGaugh bekam viele solcher E-Mails wie diese im Sommer 2000. Er sei Forscher, kein Arzt, antwortete er der 34-jährigen Südkalifornierin Jill Price und verwies sie an medizinische Einrichtungen. Doch was sie ihm als Nächstes schrieb, liess ihn aufhorchen: «Mir geht jeder Tag meines ganzen Lebens durch den Kopf, und es macht mich verrückt!!!»

Zwei Wochen später empfing der Forscher Price auf dem Campus der University of California in Irvine. Er testete ihre Erinnerung mithilfe eines Buchs voller wichtiger historischer Daten des 20. Jahrhunderts und anderer Quellen. Sie erinnerte sich an alle abgefragten Ereignisse: wo sie war, als sie davon hörte, wer bei ihr war, ob die Sonne schien oder nicht und was sie sonst noch an diesem Tag erlebte. Die Frau musste nur an ein Datum denken, und die Szenen spielten sich vor ihrem geistigen Auge ab.

Das Gedächtnis als eine Last

Price ist heute bekannt als die erste Frau, bei der das sogenannte hyperthymestische Syndrom diagnostiziert wurde. Sie teilt diese – auch als «Highly superior autobiographical memory» (HSAM) bezeichnete – Besonderheit mit nur rund 60 Personen weltweit. Ähnlich rar sind die gesicherten Erkenntnisse darüber. Es gibt zum Beispiel kleine Unterschiede in bestimmten Hirnstrukturen, «aber sie liefern keine Erklärung dafür, warum manche Menschen HSAM entwickeln», sagt Andreas Papassotiropoulos, Professor für Molekulare Neurowissenschaften an der Universität Basel. Nächtelang habe er schon mit seinem Kollegen Dominique de Quervain über das Syndrom diskutiert.

«Vor einigen Jahren haben wir einen Aufruf im deutschsprachigen Raum gestartet und Tausende von Zuschriften bekommen», so der Forscher. Bei keiner einzigen Person habe man tatsächlich HSAM festgestellt. Dass es nur so wenige Träger dieser Eigenschaft gibt, macht das Rätsel umso schwieriger.

Einen Ansatzpunkt scheint es indes zu geben: Menschen wie Jill Price lernen Neues genauso effizient wie andere. Der grosse Unterschied liegt darin, dass ihr Gehirn Erlebnisse und Eindrücke nicht löscht. Damit führen sie zwar ein relativ normales Leben, leiden aber unter ihren ständig präsenten Erinnerungen – auch an jedes unangenehme oder traurige Detail ihres Lebens. Jill Price bezeichnet ihr Gedächtnis als Last, und unter den anderen HSAM- Betroffenen gibt es auch einige mit psychiatrischen Problemen.

Forschung mit Fadenwürmern

«Das Gedächtnis muss triviale Informationen aussortieren, um richtig zu funktionieren», erklärt Papassotiropoulos. Dies sei tatsächlich ein aktives Aufräumen im Archiv der Erinnerungen und kein schleichender Verfall ungenutzter Archivstücke. Das konnte das Forschungsteam um Papassotiropoulos, de Quervain und Attila Stetak 2014 beweisen, als sie in Fadenwürmern ein Gen identifizierten, das eine Schlüsselrolle beim Vergessen spielt.

Musashi, so der Name des Gens, kommt auch beim Menschen vor. Auf dem Couchtisch im Büro des Gedächtnisforschers Papassotiropoulos liegt ein Stapel der Ausgabe der Fachzeitschrift «Cell», in der diese viel beachtete Publikation erschienen ist. Daneben säuberlich sortiert weitere Fachjournale mit eigenen Veröffentlichungen. Dass der Professor Ordnung nicht nur im Gedächtnis, sondern auch in seinem Büro wichtig findet, ist dem Raum anzusehen: ein grosser, klar strukturierter Schreibtisch, sauber beschriftete Ordner in einem Regal, auf dem ganz oben die gerahmte Urkunde für den Cloëtta-Preis 2013 steht. «Das Musashi-Gen haben wir bei den HSAM-Personen als Erstes angeschaut, aber hier unterscheiden sie sich nicht von anderen», so der Neurowissenschaftler. Beinahe glaubt man, ein Bedauern in seiner Stimme zu hören.

Jim, wie der Basler Forscher James McGaugh freundschaftlich nennt, habe Anfang der 2000er-Jahre angeboten, DNA-Proben von 21 Betroffenen und einigen ihrer Blutsverwandten zu sammeln. «Wir haben das Angebot angenommen, obwohl wir damals noch nichts damit anfangen konnten», erinnert er sich. Das änderte sich einige Jahre später mit der Revolution der Erbgutsequenzierung. Es rückte jetzt in den Bereich der technischen und finanziellen Möglichkeiten, das Buch der geerbten Informationen bis auf den einzelnen Buchstaben genau zu untersuchen.

Ein waghalsiges Vorhaben

Die Forschenden der Transfakultären Forschungsplattform in Basel sind seither auf Schatzsuche in diesem Buch. Sie spüren kleinsten Besonderheiten im Erbgut der Betroffenen nach, Buchstabenfolgen, die bei 100'000 anderen Menschen an genau der gleichen Stelle so nicht vorkommen.

«Wir konzentrieren uns ausschliesslich auf die Bereiche des Erbguts, die tatsächlich für Proteine codieren, und sequenzieren diese bis ins kleinste Detail. Wenn es etwas ist, das auf ein einziges Gen zurückgeführt werden kann, werden wir es finden», davon ist Papassotiropoulos überzeugt.

Es ist eine riskante Wette. Denn HSAM könnte ebenso aus dem Zusammenspiel mehrerer genetischer Besonderheiten entstehen, die nur genau in dieser Kombination einen Effekt haben. Oder auf einer Veränderung eines Gens beruhen, das nicht für ein Protein codiert, sondern eine regulierende Funktion in den Zellprozessen hat. Die Chance auf Erfolg ist im Vergleich zu anderen Projekten zwar sehr gering, gibt der Forscher zu. Möglich wurde das Vorhaben denn auch nur dank Finanzierung durch den FreeNovation Award der Novartis Forschungsstiftung, die damit genau solche waghalsigen Ideen unterstützt.

Aber wenn Papassotiropoulos’ Team die genetische Ursache für das hyperthymestische Syndrom finden würde, wäre dies eine Sensation. Es würde das Verständnis davon, wie wir vergessen, revolutionieren. Nicht nur Menschen wie Jill Price bekämen eine Antwort, worauf ihre aussergewöhnliche Fähigkeit beruht. Auch die Erforschung von weniger seltenen Phänomen, bei denen das Gehirn zu viel oder zu wenig vergisst, bekäme neuen Schub: etwa von Alzheimer oder dem Posttraumatischen Stresssyndrom, das von quälenden Erinnerungen an belastende Erlebnisse geprägt ist.

Er versuche, seine eigenen Erwartungen im Zaum zu halten, sagt Papassotiropoulos. Zu oft schienen die Daten auf einen Durchbruch hinzudeuten, der sich jedoch nach genauerer Prüfung in Luft auflöste. «Immer wieder glaube ich, es endlich in den Fingern zu haben, und dann engleitet es mir wieder.» Sollte sein Team eines Tages auf etwas stossen, das auch den rigorosesten Tests standhält, es wäre ein grosser Moment für Papassotiropoulos. Dann würde er gerne in die USA reisen, um Jill Price und andere Betroffene persönlich zu treffen – denn dann hätte er endlich Antworten für sie.


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