Hilfe für den Kurzzeitspeicher.
Text: Santina Russo
Wie wichtig unser Arbeitsgedächtnis ist, merken wir erst, wenn es nicht mehr richtig funktioniert – etwa im Alter oder bei psychischen Leiden. Forschende suchen nach Wegen, diesen Kurzzeitspeicher im Alltag zu stärken.
Während Sie diesen Satz lesen, sorgt Ihr Arbeitsgedächtnis dafür, dass Sie am Ende des Satzes den Anfang nicht vergessen haben. Es ist auch dafür verantwortlich, dass Sie E-Mail-Adressen oder Zahlencodes kurzzeitig im Kopf behalten und dass Sie sich daran erinnern, wo Sie vorhin den Einkaufszettel hingelegt haben. Dank ihm können Sie einem komplexen Gespräch folgen und auf ein Argument Ihres Gegenübers auch Minuten später noch eingehen. Kurz: Ihr Arbeitsgedächtnis fungiert als Kurzzeitspeicher des Gehirns und macht, meist von Ihnen unbemerkt, viele alltägliche Handlungen überhaupt erst möglich.
Allerdings fängt dieser Kurzzeitspeicher früh an, uns im Stich zu lassen: Schon ab 25 Jahren sinkt dessen Leistungsfähigkeit, ab 50 Jahren merklich. Zudem führen psychische Leiden wie Schizophrenie oder Depressionen häufig zu Störungen des Arbeitsgedächtnisses. «Das schränkt Betroffene im Alltag stark ein», sagt Dominique de Quervain, Neurowissenschaftler an der Universität Basel. Er sucht mit seiner Forschungsgruppe nach Möglichkeiten, dem Arbeitsgedächtnis auf die Sprünge zu helfen – mit speziellen Trainings oder Medikamenten.
Das Arbeitsgedächtnis trainieren – aber richtig
Dabei geben sich die Forschenden nicht damit zufrieden, das Arbeitsgedächtnis zu trainieren, sondern wollen damit auch weitere kognitive Funktionen verbessern. Denn ohne einen solchen Übertragungseffekt nützt eine höhere Leistung des Arbeitsgedächtnisses wenig: Sie ist dann zwar in eigens entworfenen Tests messbar, ohne aber Fähigkeiten zu verbessern, die im Alltag gefragt sind. «Wenn Sie üben, sich Buchstabenfolgen zu merken, werden Sie darin besser, doch das hilft Ihnen nicht, sich leichter online einzuloggen oder einen Text zu verstehen», veranschaulicht de Quervain.
Nun hat eine Doktorandin in seinem Team, Priska Zuber, eine Trainings-App entwickelt, die als erste Massnahme überhaupt zumindest ansatzweise einen solchen Übertragungseffekt erzielt. In ihrer neuen App lösen Nutzerinnen und Nutzer verschiedene Aufgaben und trainieren so die einzelnen Komponenten ihres Arbeitsgedächtnisses – darunter etwa eine, die für Farben, Formen und die räumliche Verortung zuständig ist, und eine weitere für Dinge, die man hört oder liest.
Die Aufgaben sind spielerisch, aber anspruchsvoll und drehen sich um das Thema Weltall. Wer trainiert, verfolgt auf dem Bildschirm beispielsweise, in welcher Reihenfolge Satelliten aufleuchten, um dies anschliessend korrekt wiederzugeben. Als zusätzliche Schwierigkeit sind zwischen dem Merken und dem Abruf manchmal Ablenkungen eingebaut, etwa Töne oder Bilder.
Ablenkungen sind gute Trainer
In einer klinischen Studie mit rund 90 Personen hat Zuber die Wirkung ihres Trainings getestet und mit einer schon etablierten Trainingsmethode verglichen. Während drei Wochen übten die über 55 Jahre alten Testpersonen jeweils viermal pro Woche mit einer der Trainingsmethoden. Eine Kontrollgruppe absolvierte derweil am Tablet lediglich feinmotorische Übungen, die das Arbeitsgedächtnis nicht beanspruchten.
Vorher und nachher absolvierten die Teilnehmenden kognitive Tests, welche die Leistung ihres Arbeitsgedächtnisses abbilden und auch zeigen sollten, ob sich das Training auf weitere Gehirnfunktionen übertragen hatte.
Wie sich herausstellte, erhöhte einzig das Training mit den eingebauten Ablenkungen die Gedächtnisleistung signifikant. «Offenbar wurde das Arbeitsgedächtnis gerade durch die Ablenkungen besser darin, unwichtige Informationen von den wichtigen zu trennen. Das machte es leistungsfähiger», erklärt Zuber. Dasselbe Training wirkte sogar teilweise über das Arbeitsgedächtnis hinaus.
Die Probanden dieser Gruppe schnitten nämlich bei Tests zum räumlich visuellen Lernen besser ab. Als Nächstes will Zuber in einer Folgestudie untersuchen, wie genau diese Ablenkungen das Arbeitsgedächtnis trainieren helfen.
Hilfe für psychisch Erkrankte
In Zukunft könnten bei Menschen mit einer psychischen Erkrankung auch Medikamente das Arbeitsgedächtnis verbessern. In diesem Zusammenhang untersucht de Quervain zurzeit ein Medikament namens Fampridin, das bereits bei Menschen mit Multipler Sklerose eingesetzt wird. Darauf, dass der Wirkstoff auch einen Einfluss auf das Arbeitsgedächtnis haben könnte, sind er und sein Team über Genvergleiche gestossen. Die Forschenden haben die Ergebnisse einer Studie, die das Genmaterial von mehr als 100’000 Menschen nach Risikofaktoren für Schizophrenie durchforstet hatte, mit eigenen genetischen Daten zum Arbeitsgedächtnis verglichen. So haben sie ein Gen identifiziert, das sowohl bei Schizophrenie als auch beim Arbeitsgedächtnis eine Rolle spielt.
Das besagte Gen liefert den Bauplan für einen sogenannten Kaliumkanal. Diese Moleküle spielen im Gehirn bei der Signalübertragung zwischen Nervenzellen eine entscheidende Rolle und damit auch bei der Informationsspeicherung des Arbeitsgedächtnisses.
Fampridin nimmt nun genau solche Kaliumkanäle ins Visier – bei Multipler Sklerose hilft es, die Signalübermittlung von Bewegungen zu steuern, sodass Betroffenen das Gehen leichter fällt. Um zu überprüfen, ob Fampridin auch das Arbeitsgedächtnis gewandter macht, plant de Quervain eine klinische Studie mit gesunden Testpersonen im Alter von 18 bis 30 Jahren.
Kein Gehirndoping
Falls sich nun zeigen sollte, dass Fampridin tatsächlich das Arbeitsgedächtnis fördert, wäre das Medikament dann auch für gesunde Menschen eine Option, etwa um konzentrierter arbeiten oder lernen zu können? Könnte Fampridin gar zu einer Wunderpille werden, die uns ähnlich wie Bradley Cooper im Hollywoodfilm «Limitless» zu geistigen Supermenschen macht? «Nein, das ist äusserst unwahrscheinlich», sagt de Quervain und schmunzelt. «Eine Pille mit einer derart extremen Wirkung ist pure Science-Fiction.» Die Realität sieht anders aus. «Wir sind schon froh, wenn wir eine mittelstarke Wirkung sehen, die einen Einfluss auf den Alltag beeinträchtigter Personen haben kann.»
Ob Medikament oder Training – die Mittel eignen sich also nicht als Gehirndoping. Aber sie könnten dereinst helfen, betagten oder kranken Menschen das Leben etwas zu erleichtern.
Dominique de Quervain ist Professor für Kognitive Neurowissenschaften und Co-Leiter der Transfakultären Forschungsplattform «Molecular and Cognitive Neurosciences» der Universität Basel.
Priska Zuber ist Doktorandin an der Fakultät für Psychologie und der Transfakultären Forschungsplattform MCN der Universität Basel.
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