Sollten Medikamente nach dem Verfallsdatum noch verwendet werden, Anis Arioua?
Text: Anis Arioua, Medizinethiker
Steigende Gesundheitskosten und Lieferengpässe führen zu einem Dilemma um die Verwendung abgelaufener Arzeimittel. Antworten aus medizinethischer Sicht.
Die Haltbarkeitsdauer eines Medikaments gibt an, für welchen Zeitraum der Hersteller die volle Wirksamkeit und Unbedenklichkeit garantiert. Das bedeutet nicht, dass das Medikament danach sofort unwirksam wird, sondern dass keine Daten vorliegen, ob es noch sicher verwendet werden kann.
Dabei wäre es wichtig, die Sicherheit und Wirksamkeit abgelaufener Medikamente zu prüfen. Diese könnten dann nämlich Menschen mit akutem Bedarf zugutekommen: Viele Entwicklungsländer können sich gewisse Medikamente für ihre Bevölkerung nicht leisten und leiden unter akutem Mangel an wichtigen Arzneimitteln wie Antibiotika und Impfstoffen. Abgelaufene, aber noch wirksame und sichere Medikamente dorthin umzuleiten, würde Verschwendung vermeiden, Kosten senken und Solidarität zeigen.
Die Pharmaindustrie ist daran aber nicht interessiert: Zusätzliche Tests sind teuer und könnten ihre Umsätze beeinträchtigen. Es gibt keine Verpflichtung, Medikamente über den von Zulassungsbehörden vorgeschriebenen Zeitraum hinaus zu testen. Zudem sind die Unternehmen in gewissem Masse auf den Umsatz angewiesen, der durch die Entsorgung abgelaufener Arzneimittel und die Bestellung neuer Chargen generiert wird. Sinkt der Umsatz eines Medikaments aufgrund der Verwendung nach Ablauf des Verfallsdatums, verlieren die Hersteller möglicherweise das Interesse und stellen die Produktion ein, was zu Lieferengpässen und steigenden Preisen führt.
Das Dilemma besteht also darin, ob die Gesundheit der Patientinnen und Patienten an erster Stelle stehen soll oder die Bedürfnisse der pharmazeutischen Industrie, die Arzneimittel bereitstellt und neue Behandlungsmöglichkeiten entwickelt. Die Industrie argumentiert, dass Sicherheit und Wirksamkeit abgelaufener Medikamente nicht gewährleistet seien. Allerdings versuchen Versicherungen und Gesundheitsbehörden, die Gesamtkosten des Gesundheitswesens zu senken. Für sie und auch für Patientinnen und Patienten wäre die Weiterverwendung abgelaufener, aber wirksamer Medikamente zu tieferen Preisen von Vorteil.
Dieses Dilemma könnte zumindest gemildert werden: durch Programme, die mit zusätzlichen Langzeittests eine genauere Haltbarkeitsdauer ermitteln. Studien haben gezeigt, dass bestimmte pharmazeutische Produkte nach Ablauf des Verfallsdatums manchmal über Jahrzehnte noch voll wirksam sind.
Vor allem feste Arzneiformen wie Tabletten und Kapseln scheinen stabil zu bleiben. Dies gilt jedoch nicht für flüssige Produkte zur Injektion, wie etwa Insulin und einige Antibiotika. Diese dürfen nach Ablauf des Verfallsdatums nicht mehr verwendet werden. Leider betrifft das einige Arzneimittel, die in Entwicklungsländern knapp sind.
Programme zur Verlängerung der Haltbarkeitsdauer könnten sich also auf feste Arzneiformen konzentrieren, für die ein besonders hoher Bedarf besteht. Sobald eine genauere Haltbarkeitsdauer ermittelt wurde, könnte das betreffende Medikament offiziell als geeignet für die Weiterverwendung eingestuft werden. Wer diese Programme finanzieren würde, bleibt offen. Die pharmazeutische Industrie hat daran kein Interesse, sodass diese Aufgabe wohl Nichtregierungsorganisationen zufallen würde.
Anis Arioua ist Doktorand am Institut für Bio- und Medizinethik und arbeitet in der pharmazeutischen und medizinischen Industrie.
Weitere Artikel dieser Ausgabe von UNI NOVA (November 2024).